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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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war bei ihr geblieben, in dem Haus mit den Rosen hinter der Rhododendronhecke.
    Wenn sie an diese Gespräche dachte … Nur einmal gab es einen Augenblick des Zweifels. Als Henry die Frage aller Fragen stellte: »Manchmal gibt es Wichtigeres als privates Glück, findest du nicht?«
    »Ja«, hatte sie gesagt. Nein, hatte sie gedacht. Niemals.
    Paul nahm ein Sandwich in die Hand, betrachtete es und legte es zurück. »Damals gab Erich Mielke eine Art Überlebensordnung bekannt. Im Krisenfall sollten unsere Offiziere im besonderen Einsatz alles verfügbare Vermögen unter ihre Kontrolle bringen und sicherstellen.«
    Sie hatte aus dem Fenster gesehen und darauf gehofft, daß Henry wiederkäme.
    »Du willst das alles nicht mehr wissen, Marie, stimmt’s?« Paul hatte weich geklungen, fast zärtlich, und traurig.
    »Nein. Und ich heiße Mary.«
    Sie hatte Jahre gebraucht, um sich wieder an ein normales Leben zu gewöhnen, nachdem sie 1968 mit Hilfe von Paul die Ausreise geschafft hatte. 1968, nach der Zerschlagung des Prager Frühlings. Was war sie für ein Schaf gewesen! Sie hatte glühend auf den Sozialismus mit menschlichem Antlitz gehofft. So glühend wie viele andere auch, die ihre Naivität in den Abgrund gerissen hatte. Aber es gab das alles nicht, den menschlichen, den demokratischen, den aufgehübschten, den angemalten und geschönten Sozialismus. Alles Hokuspokus, und sie hatte begonnen, daran zu glauben. Ausgerechnet sie.
    Manchmal wußte sie nicht, was schmerzlicher gewesen war: die zahllosen Stunden beim Debriefing im SIS, in denen sie über jede Kleinigkeit ihrer Tätigkeit in den vergangenen Jahren Rechenschaft ablegen mußte, ein Verhör, das sie auf alle Zeit ernüchtert hatte – oder daß Henry damals noch verheiratet gewesen war, mit einer zarten porzellanhäutigen Schönheit, die von seinem Job nichts wußte. Mary hatte sich entsetzlich allein gelassen gefühlt.
    Und nun saß Paul Grunau über zwanzig Jahre später in ihrer Küche, in diesem geheiligten Zentrum ihres Privatlebens, und klagte eine alte Schuld ein. In diesem Moment hatte sie ihn dafür gehaßt.
    »Ich brauche deine Hilfe.« Paul hatte sich zwar angehört, als ob er die Hoffnung darauf längst aufgegeben hätte, aber er wußte ja, daß sie ihm etwas schuldig war. Er wußte wahrscheinlich auch, daß sie es ihm gern schuldig geblieben wäre.
    »Was willst du von mir, Paul?« Sie hatte versucht, abweisend zu klingen, während sie den Teller mit den Sandwiches außer Reichweite stellte. Sie waren weich und warm geworden. Und er aß sowieso nichts.
    »Ich habe einen Teil des Parteivermögens sichergestellt, Marie. Die anderen sollen es nicht kriegen.«
     
    »Benjamin Dimitroff war Paul Grunaus Mädchen für alles.« Köster lief schon seit einigen Minuten auf und ab, den Speisesaal hoch und wieder runter, wie ein gelangweiltes Zootier. »Er hat bis zu dessen Tod für ihn gearbeitet.«
    Sie hatte von Pauls Tod gehört, über mehrere Ecken. Aber nichts über die »dubiosen Umstände«, die Sager erwähnt hatte. Hatten die anderen ihn umgebracht? Dann wußten sie alles, sie kannten sich schließlich aus damit, wie man einem Menschen seine Geheimnisse entlockt. Wieder wurde ihr kalt. Andererseits – wo Mary zu finden war, hatte Paul nicht verraten können. Er wußte es nicht. Mulberry Cottage in Bovey Tracey und Mr und Mrs Delight – was hatte sie Henrys und ihren Namen geliebt! – waren zu diesem Zeitpunkt längst Geschichte.
    »Sie wohnten bis 1990 in Großbritannien, stimmt das?«
    Sie nickte.
    »Bovey Tracey.« Sager sprach den Namen aus, als müsse er ihn buchstabieren.
    »Devon. Am Rande des Dartmoors.« Rhododendren und Buchsbäume und Rosen.
    »Paul Grunau und Benjamin Dimitroff haben Sie dort im Februar 1990 besucht. Wir vermuten, daß Grunau Ihnen anvertraut hat, wie und wo er das Geld untergebracht hat.«
    »Wie kommen Sie auf diese Idee?« Mary versuchte, milde zu lächeln und zugleich rechtschaffen empört zu klingen.
    Sager sah Köster an, Köster blickte ungerührt zurück. »Das tut nichts zur Sache«, sagte er.
    Natürlich nicht. Wer enthüllt seine obskuren Quellen schon freiwillig?
     
    Paul Grunau rührte in dem Tee, den sie vor ihn hingestellt hatte. Er rührte und rührte, am liebsten hätte sie ihm den Becher wieder weggenommen.
    »Das Geld ist über drei Banken auf fast sechzig Konten in aller Welt verteilt worden. Ich habe die Zugriffsdaten in vier großen Briefumschlägen von Benny in einem Schließfach der

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