Doppelte Schuld
Zeitung hatte dichtes, ungekämmtes Haar, leicht schrägstehende Augen und war unrasiert. Es war nicht so, daß ihr Mutterherz bei seinem Anblick höher schlug, dafür war es zu lange außer Betrieb gewesen. Aber sie erkannte ihren Sohn, es tat ihr weh, ihn in Gefahr zu wissen.
Und sie war daran schuld.
Das Foto war ein Polaroid, sie hatte gar nicht gewußt, daß es das noch gab. Unter dem Foto stand ein einziger Satz, die Schriftzüge präzise, ja pedantisch. »Du weißt, was wir wissen wollen.« Sie legte das Foto beiseite.
Ja, das wußte sie. Sie wollten den Schlüssel, den ihr Paul Grunau bei seinem Besuch in England aufgezwungen hatte. Den Schlüssel zu einem Schließfach der Scheuring-Bank, in dem Benjamin Dimitroff im Winter nach der Wende vier große braune Umschläge deponiert hatte. »Darin steht alles, was du wissen mußt.« Sie hatte den Kopf geschüttelt, aber Grunaus heisere Stimme hatte immer weitergeredet. »Hörst du, Marie? Stell das Geld sicher! Laß es nicht in seine Hände fallen!«
Sie hatte nicht die Absicht. Jetzt nicht mehr. Axt wollte den Kampf, und er meinte es bitterernst. Sie wußte nicht, wie und womit er Benny zum Reden gebracht hatte, vielleicht hatte er ihm sogar einen Teil der Beute versprochen. Möglich war alles. Jedenfalls war Benny tot.
Sie aber dachte nicht daran zu sterben – und vor allem nicht, jemand anderen sterben zu lassen. Du wirst das Geld nicht kriegen, Martin Axt. Und meinen Sohn auch nicht.
Nicht Gregor. Nicht Katalina. Nichts und niemanden.
Es wunderte Mary nicht, daß am nächsten Tag Jens Sager und Kurt Köster in der Hotellobby standen und auf sie warteten.
»Verzeihung, aber ich hätte da noch eine Frage.«
Der alte, wohlbekannte Ton – Jens Sager hatte ihn fast getroffen. Aber als sie lächelte, sah er sie verständnislos an. Er wußte gar nicht, daß er einen Klassiker zitiert hatte. Goodbye, Columbo , dachte sie und setzte eine angemessen ernste Miene auf.
»Sagt Ihnen der Name Sirius etwas?«
Lux hob den Kopf und spitzte die Ohren. Mary legte dem Hund beruhigend die Hand auf den Kopf. »Der hellste Stern am Nachthimmel«, antwortete sie. »Sternbild Canis major.«
Sager schüttelte den Kopf. »Ich meine die Operation Sirius.« Er sprach die Worte ganz vorsichtig aus, man merkte, daß er nicht begriff, wovon genau die Rede war.
Sie wußte es auch nicht. Aber sie begann etwas zu ahnen. Paul Grunau hatte das Wort gekannt und gewußt, daß Sirius für sie eine besondere Bedeutung gehabt hatte, wenn ihm auch nicht klar war, warum. Konnte es sein, daß er aus alter Zuneigung zu ihr seine Geldverbringungsmaßnahme »Sirius« getauft hatte? Oder wegen der Rolle, die er ihr zugedacht hatte?
Who knows.
Jedenfalls erklärte das manches. Allein das Wort »Sirius« hätte dann Martin Axt auf den Plan gerufen – erst recht in Kombination mit ihrem Namen. Auf diese Weise wäre aus einer harmlosen Suchaktion unter einem Stichwort, das sie an Gregor erinnern sollte, ein weithin sichtbares Zeichen geworden, das auch die Geier in Scharen angelockt hatte. Wenn es wirklich Moritz war, der sie gesucht hatte, und nicht Gregor, der bereit war, sie für einen Teil der Beute zu verraten – dann war sie Opfer eines dummen Zufalls geworden. Eines vielleicht sogar liebevoll gemeinten Einfalls Paul Grunaus, des Mannes, mit dem sie Jahre ihres Lebens verbracht und der sie vergeblich geliebt hatte.
Paul Grunau war tot. Verblutet auf einem Zebrastreifen in Lugano. Ein Unfall? Natürlich nicht. Und vorher hatte er geredet. Wahrscheinlich, mit Sicherheit, wie alle, wie auch sie es tun würde, wenn nur jemand den Hebel richtig ansetzte.
Sie richtete sich auf. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen, meine Herren. Mir scheint, die Quellen sind trüb, aus denen Sie schöpfen.«
Köster und Sager sahen einander an. Ihre Ratlosigkeit war mit Händen zu greifen. Die Katze hat euch gefüttert, aber nicht satt gemacht, dachte Mary. Ihr seid nur arme Bauern in ihrem Spiel. Ihr habt nur eine Funktion: mich unter Druck zu setzen.
Denn die Katze verläßt sich nicht allein auf so etwas Unzuverlässiges wie Mutterliebe.
Die beiden Kripomänner wirkten verlegen. Sager hatte gar nicht erst seinen Skizzenblock herausgeholt, und auch Köster schien der Meinung zu sein, man könne die ganze Sache zwischen Tür und Angel abhaken. Aus den Augenwinkeln sah sie Frau Willke in der Tür zum Speisesaal stehen. Carlo hielt den Kopf tief über die Computertastatur gesenkt.
»Letzte
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