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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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aufgefallen, aber die Zugvögel mußten längst weg sein, und die anderen waren wahrscheinlich damit beschäftigt, sich Speck für den Winter anzufuttern. Die Baumriesen wiegten sich und flüsterten im aufkommenden Wind, ihr Blätterdach war schütter geworden und schickte ein paar welke Blätter abwärts.
    Katalina folgte der Wegkrümmung, heute nicht mit der üblichen Freude auf den Ausblick, den man vom Plateau des Kirchbergs auf den Brocken hatte. Aber als die Baumriesen den Blick freigaben, hielt sie wie immer den Atem an. Nicht nur des Himmels wegen, über den Wolkenfetzen jagten – und über dem Brocken hing eine schwarze Wolkenwand wie Rauch nach einem Vulkanausbruch.
    Darunter, auf der Wiese vor den alten Grabsteinen, über der Krypta, stand sie.
    Die Szene erinnerte an die vor einer Woche, und doch war alles anders. Der Wind ließ Mathilde von Bergens Haare fliegen wie die Mähne einer Brockenhexe und blähte ihre weiße Tunika. Sie bewegte sich diesmal nicht wie eine Hohepriesterin, sondern wie ein Samurai: Das eine Bein hatte sie nach vorne gestreckt, das andere blieb angewinkelt, dann folgten ein Ausfallschritt und eine Drehung, aus der heraus sie mit einer Art Schwert in der rechten Hand einen weiten Bogen beschrieb, während sie die linke wie zur Abwehr eines Gegenangriffs hochhielt, die Handfläche nach vorn gewendet. Wieder eine Drehung, diesmal stand sie auf einem Bein, das andere Bein angewinkelt, das Schwert nach vorne gerichtet. Es war ein langsamer, atemberaubend schöner und bedrohlicher Tanz, etwas, das Katalina noch nie gesehen hatte.
    Die alte Dame hielt die Augen geschlossen. Es gab keine Unterbrechung in der fließenden Bewegung, eine Figur folgte auf die andere, wiederholte sich, veränderte sich. Ihr Hund saß da, wie schon beim letzten Mal, ein wachsamer Anubis vor dem großen Grabstein. Katalina wagte nicht zu stören, die Bewegungen waren im Fluß, sie hatte plötzlich Angst, etwas würde aus dem Gleichgewicht geraten, die Welt aus ihrer Achse kippen, wenn das da vorne unterbrochen würde, dieser Tanz.
    Ein Kriegstanz, dachte Katalina plötzlich. Am Vorabend der Schlacht, um die Götter gnädig zu stimmen.
    Dann stand die weiße Gestalt still, die Füße nebeneinander, das Schwert aufrecht in der linken Hand. Sie öffnete die Augen. »Katalina«, sagte sie. »Ich habe Sie gar nicht bemerkt.«
    »Man hat Ihren Sohn entführt.«
    Die Frau erstarrte. Und dann kam Bewegung in die Szene. Zeus lief auf die Wiese, direkt auf den schwarzen Schäferhund zu, der die Begrüßung begeistert erwiderte. Und Mathilde von Bergen schrumpfte von der übergroßen Figur einer Kriegs- und Rachegöttin auf Normalmaß zurück.
    »Mein Sohn?« Katalina hatte einen entsetzten Aufschrei erwartet. Aber die alte Dame war noch nicht einmal erschüttert. Höchstens erstaunt. Dann fragte sie: »Woher kennen Sie meinen Sohn?«
    »Sie sind doch Mathilde von Bergen? Sind Sie nicht seinetwegen hier? Wegen Moritz?«
    Da bewegte sich plötzlich das Gesicht, das zuvor wie eine Maske gewirkt hatte. »Seinetwegen? Ich dachte – Gregor …«
    »Moritz ist der Adoptivsohn von Gregor von Hartenfels.« Wußte die Frau das wirklich nicht?
    Mathilde von Bergen atmete tief durch. Dann nickte sie. »Ich verstehe.« Endlich glaubte Katalina eine Gefühlsregung bei ihrem Gegenüber zu spüren. Nicht Angst. Eher so etwas wie widerwillige Anerkennung.
    »Ihr Sohn sucht Sie, schon seit Monaten. Man hat ihn gestern nacht entführt. Und eben habe ich das da vor meinem Haus gefunden.« Sie hob die Karte mit dem obszön lächelnden Glücksschwein hoch. »›Wenn Sie Ihren Freund wiedersehen wollen, dann fragen Sie Mary Nowak nach Sirius‹.«
    Die alte Dame stützte sich auf das Schwert. »Moritz ist Ihr Freund«, sagte sie. »Und Sie …«
    »Ich mache mir Sorgen.«
    Moritz’ Mutter sah sie nicht an. Sie kniff die Augen zusammen und schien nachzudenken. Dann murmelte sie etwas Seltsames. »Er spielt das Spiel gut.«
    »Es ist kein Spiel.« Katalina merkte, wie die Ruhe dieser Frau sie nervös machte. Hatte sie kein Herz? Kein Gefühl? War ihr alles egal?
    »Oh doch. Es ist das Spiel, das Katzen mit den Mäusen spielen. Und am Ende …«
    Mary Nowak richtete die Augen in die Ferne, dorthin, wo die Wolken über dem Brocken standen.
    »Am Ende ist nicht die Katze tot.«

Sirius

1
    Die beiden Frauen erreichten in letzter Sekunde das Gartenhaus an der Schloßmauer, bevor sich die Schleusen über ihnen öffneten. Mary zwang sich,

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