Doppelte Schuld
gleichmäßig zu atmen und ihren Kopf von unnötigen Gedanken zu befreien. Sie spürte die Unruhe der Frau neben ihr. Katalina Cavic war am Ende ihrer Nerven. Zuviel Vorstellungsvermögen, dachte Mary. Man muß die Lage ohne Emotionen analysieren.
Als ob ihr das leichtfiele. Daß ihr Sohn in Blanckenburg war – und daß er es war, der nach ihr gesucht hatte, nicht Gregor –, traf sie mit unvorhergesehener Wucht. Natürlich meldeten sich unverzüglich die alten Schuldgefühle. Sie war eine Rabenmutter – aber er hatte trotzdem nach ihr gesucht. Hieß das, er hatte ihr verziehen? Welcher verrückte Zufall hatte ihn mit Gregor zusammengebracht? Und was hatte Gregor ihm erzählt, über Sirius und Stella?
Die beiden Hunde kauerten zu ihren Füßen, während der Regen herunterprasselte. Sie wickelte sich enger in den Mantel und schloß die Augen. Langsam dämmerte ihr, was sie bis dahin nicht begriffen hatte. Martin Axt mußte geglaubt haben, sie sei Moritz’ wegen nach Blanckenburg gekommen, deswegen hatte er ihn entführt. Zugleich setzte Axt Moritz’ Freundin, die Tierärztin, unter Druck. Als dritte Front hatte er die Polizei auf ihre Spur gesetzt. Und wenn sie seine Anspielung auf Sirius richtig verstand, war Gregor das nächste Opfer. Die Katze führte ihren Angriff von vier Seiten. Mary wurde nach allen Regeln der Kunst in die Zange genommen.
Sie bewunderte Axts Strategie, wenn auch widerwillig. Der Mann kämpfte mit allen Mitteln, entweder hatte er das Geld wirklich nötig, oder …
Er will Rache an dir nehmen, dachte sie. Für ihn ist das die große Abrechnung, das Finale, das Endspiel. Seit Henry, Paul und Benny tot sind, gibt es nur noch dich. Und auf diese Konfrontation hat er schon viel zu lange gewartet. Erwarte kein Entgegenkommen.
Die Frau neben ihr fröstelte. Mary hätte ihr am liebsten den Arm um die Schulter gelegt und sie beruhigt. »Ich begreife das alles nicht«, flüsterte Katalina.
Ich schon, dachte Mary. Aber das hilft im Moment nicht weiter. »Wie sind Sie auf mich gekommen?« fragte sie, um Katalina abzulenken. Mathilde von Bergen gab es schon lange nicht mehr, spätestens seit der Heirat mit Henry 1970. Sie hatte so viel verloren seither. Und im Moment sah es ganz so aus, als sollte sie noch weit mehr verlieren.
»Gregor hat Sie gesehen, im Krankenhaus.« Katalina flüsterte noch immer, als könne jemand sie belauschen. »Er hat Ihr Lächeln beschrieben. Und das ist unverwechselbar.«
Mary hätte die andere am liebsten gefragt, ob sie sich ähnelten – sie und ihr Sohn. Sie sah das Gesicht des Kleinen vor sich, am Tag vor dem Abschied, an dem sie ihm versprochen hatte, bald wiederzukommen. Er hatte ihr geglaubt, ihr vertraut, sich auf sie verlassen. Und gelächelt – ein bißchen schief, genau wie sie.
Ich wäre ja wiedergekommen, dachte sie – wenn die Geschichte anders verlaufen wäre. Aber wann nimmt die Geschichte schon mal Rücksicht?
Du, ein Opfer der Geschichte? Bullshit! höhnte die vertraute innere Stimme. Du hattest die Wahl, und du hast dich gegen deinen Sohn entschieden. Und gegen ein Privatleben, das diesen Namen verdient.
»Warum nur haben Sie so lange gewartet?« Katalinas Stimme riß sie aus ihren Gedanken.
»Ich wußte nicht, daß Moritz mich sucht«, antwortete sie vorsichtig. »Ich hatte vermutet, daß es Gregor ist. Wegen des Stichworts – Sirius.«
»Ihr Kosename für ihn, richtig?«
»Stimmt. Woher wissen Sie das?« Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Gregor diese kleine Sentimentalität weitererzählt hatte – auch nicht der Geliebten von Moritz. Sein Adoptivsohn. Warum hatte er ausgerechnet Moritz adoptiert?
»Wir haben vor drei Jahren Ihre Aufzeichnungen gefunden, in der Krypta.«
»Sie waren in der Krypta?« Man konnte also noch immer hinein durch den Geheimgang.
»Gregor hatte sich an Ihr Geheimversteck bei Graf Gawans Grab erinnert.«
Beim Gedanken daran, daß Gregor neben dem Grab gekniet und die Platte hochgestemmt hatte, stolperte ihr Herz. »Und Sie – haben alles gelesen?«
Katalina nickte.
Also wußten die beiden Männer, was passiert war. Alles.
Ob Gregor verstand? Und Moritz? Sie wußte plötzlich nicht mehr, was ihr lieber war: ein Sohn, der noch immer an die frommen Lügen seines Großvaters glaubte, oder jemand, der die Wahrheit kannte. Sie ließ die Hand auf Lux’ seidigen Kopf sinken und begann, ihr die Ohren zu kraulen. Was war in Moritz vorgegangen, als er erfuhr, wie es wirklich war?
Falsche Frage, höhnte es in
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