Doppelte Schuld
wegzuwerfen, war er ihr aufgefallen. »Katalina Cavic« stand auf dem Umschlag, in einer sorgfältigen, pedantischen Schrift. Mehr nicht. Als sie das Dokument aus dem Umschlag gezogen hatte, war sie ins Bodenlose gefallen.
»In Sachen Ivo Cavic« stand auf dem Deckblatt vor dem achtzehnseitigen Dokument, darunter: Detektivbüro Hermes, Frank Beyer. Der Bericht hatte sie die halbe Nacht wachgehalten, und heute früh hatte sie ihn zum vierten oder fünften Mal gelesen.
»Ivo Cavic, geboren am 13. Oktober 1938, gestorben im April 1993 in Mostar. Kraftfahrzeugfahrer, zuletzt beschäftigt bei der Molkerei in Glogovac. Verheiratet mit Mila Kristo, geboren am 1. Dezember 1940, gestorben am 12. März 1963 in Glogovac. Gemeinsame Kinder: Milo (geb. am 20. Januar 1958) und Katalina (geb. am 1. Juni 1960). Die Kinder wuchsen nach dem Tod der Mutter bei den Großeltern mütterlicherseits auf.«
Katalina hatte sich die Zahlen und Daten vorgelesen, gestern abend, wieder und wieder, als ob sie den Rosenkranz betete. Und alles war wieder da: Großvater und das Pferd, die alte Mähre, mit der sie einmal die Woche zum Markt gefahren waren. Großmutter mit den vom Wäschewaschen aufgequollenen Händen und den roten Armen, der sie beim Einkaufen helfen mußte und bei Behördengängen. Großmutter konnte nicht lesen. Das Haus, die Hühner, der Misthaufen, der Ziegenbock. Milo, der sie an den Zöpfen zog und ihr später verbieten wollte, Hosen zu tragen. Die Schule. Die Klassenkeile. Die Flucht.
Wäre sie doch nie zurückgekommen.
Aber sie war zurückgegangen – ihrer Jugendliebe wegen. Sie hatte Gavro wiedersehen wollen. Das war 1991, in den wenigen Wochen des Aufbruchs, als sie glaubte, mit dem Ende Jugoslawiens sei ein Leben in Frieden und Freiheit möglich geworden. Statt dessen war sie in ein Chaos aus Haß und Verfolgung geraten. Serben gegen Kroaten, Bosniaken und Kroaten gegen Serben, Kroaten gegen Bosniaken, jeder gegen jeden. Sie nahmen Gavro mit, eines Tages. Sie sah ihn nie wieder. Und als sie erfuhr, wer Gavro seinen Feinden ausgeliefert hatte …
Ein Vater, der kein Vater war. Ivo kam selten vorbei, er hatte kein Interesse an seinen Kindern, die er bei den Eltern seiner Frau gelassen hatte, gleich nach ihrem Tod – mit ihr war das dritte Kind gestorben. Um so schlimmer, wenn er kam, um nach dem Rechten zu sehen, wie er es nannte. Sie hatte sich immer gefürchtet vor dem Mann mit den Stoppelhaaren, den großen roten Händen und dem schweren Tritt, der durch das ganze Haus dröhnte. Milo versteckte sich, wenn er seinen Vater kommen hörte. Aber Ivo fand ihn immer. Katalina hatte sich die Ohren zugehalten, um das Klatschen des Ledergürtels und Milos Schreien und Schluchzen nicht zu hören.
Das letzte Mal, daß sie ihn gesehen hatte, war im Winter 1993 gewesen, Ende Februar, sie hatte auf dem Küchenboden gelegen, sich gekrümmt vor Schmerzen und auf den nächsten Tritt seiner schweren Stiefel gewartet. Er hatte sich über sie gebeugt, er stank nach Schnaps, wie immer. »Hure«, hatte er geflüstert und ihr ins Gesicht gespuckt. »Wenn du nicht aufpaßt, landest du neben deinem Liebsten. Im Massengrab.« Da wußte sie Bescheid.
Als er nach Mostar fuhr … zu Stevo … Dragan hatte es ihr erzählt.
»Aber sag es nicht weiter, hörst du? Es gibt da jemanden, der es auf ihn abgesehen hat.« Und dann hatte Dragan diese Handbewegung gemacht, die sie alle beherrschen, alle Männer dieser Welt, und alle meinen das gleiche, wenn sie sich mit der Handkante über die Kehle fahren.
Das schwierigste war zu telefonieren. Alles andere war einfach. »Er wird in Mostar sein. Morgen. Am Nachmittag. Bei Stevo. Am Bulevar.«
Katalina legte den Bericht beiseite. Auch die letzten Sätze kannte sie langsam auswendig. »Ivo Cavic ist am 2. April 1993 in eine bewaffnete Auseinandersetzung geraten und wahrscheinlich tot. Es war nicht herauszufinden, wo er begraben liegt. Unser Informant behauptet, der Mann sei verraten worden. Und er glaubt auch zu wissen, von wem.«
Von mir, dachte Katalina. Von seiner Tochter.
Dem Bericht war ein Schreiben beigefügt. »Sehr geehrter Herr Dr. von Bergen«, hieß es darin. »Auftragsgemäß lege ich Ihnen meinen Bericht zum Fall Ivo Cavic vor. Meine Rechnung geht Ihnen mit separater Post zu. Mit freundlichen Grüßen.«
Moritz hatte hinter ihr herspioniert. Moritz kannte die Wahrheit. Und er hatte es ihr nicht erzählt. Nicht ein Wort darüber hatte er gesagt. Nicht ein einziges Wort.
Als es an der
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