Dorfpunks (German Edition)
Gang, für die Bewegung.
Noch schlimmer wurde es, als die ersten Vöglein flügge wurden. Nach und nach fingen meine Freunde an, zu Hause bei ihren Eltern auszuziehen, meist machten sie gleich einen größeren Sprung und zogen nach Kiel, nach Hamburg, Bremen, Frankfurt. Das war schockierend, ich versuchte, wen auch immer zurückzuhalten, versuchte, sie im Namen von Punkrock an die Provinz zu fesseln und sie zu überreden, mich um Gottes willen hier bitte nicht allein zu lassen mit den Schläfern um mich herum. Meine Argumente verhallten ungehört, verständlicherweise. Ich fragte mich: Was hat Hamburg, was Schmalenstedt nicht hat? Und ich musste mir die verstörende Antwort geben: Alles. Die Anzahl meiner Freunde sank rapide. Sie alle fingen ein aufregendes Leben in deutschen Großstädten an, nur ich nicht. Ich musste weiter zur Lehre gehen, konnte nicht mit ausfliegen, musste bleiben.
Ich begann mich wieder mit Kirsten Lebowski zu treffen, wanderte über das Land zu ihr, im Winter, in meinen zerfetzten Freierskleidern, und wurde von ihr als willfähriger Spielkamerad und mitgefangener Galeerensträfling der Langeweile gerne empfangen. Mehr aber nicht.
Manchmal waren wir zu dritt, mit dabei war Maria, die Exfreundin von Flo Becker, sie hatte zu diesem Zeitpunkt auch keine Beziehung. Wir saßen zusammen und redeten über Jungs und Mädchen, über das Zusammensein, über Liebe und Sex. Das war spannend, denn es lagen immer Möglichkeiten hinter diesen Worten, Andeutungen, Spiele. Maria war eine ausgezeichnete Spielerin, sie nutzte ihre Figuren, verwickelte mich in lange Züge, und langsam, aber sicher gingen meine Gefühle von Kirsten auf Maria über, fielen dort auf fruchtbareren Boden, verankerten sich in dem Interesse, das sie mir entgegenbrachte. Sie war hübsch, intelligent, charmant, lustig und hatte eine bezaubernde Art, mich zu umgarnen. Gekonnt verwickelte sie mich in ein Spiel aus Lob und Zurückweisung, dem ich mich immer weniger entziehen konnte. Wir telefonierten oft, redeten lange, sie verstand mich, hörte mir zu, ließ meinen Wahnsinn an sich heran.
Zu meinem achtzehnten Geburtstag erschienen alle Verbliebenen auf meiner Geburtstagsparty, wir saßen in der Diele bei mir zu Hause, aßen, tranken und redeten. Es wurde spät, und schließlich gingen die meisten. In einem von den anderen unbemerkten Moment bot sie mir an, bei mir zu bleiben. Mir wurden die Knie weich, damit hatte ich nicht gerechnet. Mit jedem Gähnen um uns wuchs meine freudige Erregung, ja, jetzt geht doch endlich, geht alle, raus hier. Schließlich saßen wir zu zweit vor dem Kamin, meine Eltern waren ebenfalls schon zu Bett gegangen, und ich hatte Maria ganz für mich alleine. Sie umarmte mich und wir küssten uns, wir flüsterten miteinander, wir setzten uns in den Garten auf die Bank unter den Vollmond und schauten auf das weite Tal, in das ich schon millionenmal geguckt hatte, mein Tal, mein Fluss, mein Nebel, der dort, seit es Menschen gibt, weiß wie in einer Wanne lag. Es gibt für die Gefühle nach unten wie nach oben eine Grenze, an der man sich wünscht: Hier geht es nicht weiter, jetzt möchte ich sterben. Meine Glücksgefühle waren kaum zu steigern, ich wünschte mir, die Zeit würde stehen bleiben, zu viel, zu viel.
Das bleiche Licht, die warme Luft, deine Lippen und Augen, dein Atmen und Flüstern, das erste Mal so tief. Ich habe so lange gewartet, es war mehr als ein Spiel, du meintest mich.
Aufgeregte Worte, einzelne Silben, keine Sätze mehr, keine größeren Sinnzusammenhänge, Körpersprache.
Dann gingen wir in mein Zimmer, um uns zu erforschen.
Von jetzt an war jeder Tag anders für mich, aufregend, voller Freude. Ich sah sie nicht immer und war dadurch noch mehr damit beschäftigt, sie herbeizusehnen. Andere Frauen interessierten mich nicht mehr, ich wollte nur noch ihre Hand in meinem Schritt. Gleichzeitig aber forderten die alten Loyalitäten in mir ihren Tribut: Was ist mit der Bewegung, mit Punkrock, Action, freier Energie? Was hast du über die anderen gedacht, als die sich auf Liebe einließen? War das jetzt die Entscheidung? Punk oder Liebe? Durfte ich mich für die Liebe entscheiden? Alle meine Zweifel zerstreuten sich, wenn wir telefonierten oder uns trafen. Wir verbrachten Tage im Bett, nur unterbrochen von kurzen Exkursionen in die Küche, um Nahrung zu besorgen. Wenn mich Freunde anriefen und mich fragten, ob ich Zeit und Lust hätte rauszukommen, antwortete ich: «Ach nö, kein Bock, wir
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