Dorfpunks (German Edition)
Tapetenrollen voll mit Liebesschwüren, beklebt mit Fotos und dazu Tapes mit dem Soundtrack unserer Liebe. Der bestand zu großen Teilen aus Prince-Songs. Immer wieder «When Doves Cry», «The Beautiful Ones» und «Darling Nikki». Ich sehnte mich so sehr nach ihr. Derweil wurde sie von Sascha Hehn angegraben, der in den Drehpausen zur «Schwarzwaldklinik» die Gegend nach willigen Sexpartnerinnen abgraste. Was ihn betraf, hatte ich keine Angst um sie. Sascha war für uns Quatsch auf Beinen.
Die Tage und Wochen flossen zäh dahin, und ich konnte an nichts anderes denken als an sie. Schließlich beschloss ich, sie zu besuchen. Ich packte mir einen kleinen Rucksack, zog meinen eingelaufensten und kaputtesten Türkenanzug an und steckte mir einen Monatslohn in die Tasche. Das waren im dritten Lehrjahr dreihundert Mark. Dann fuhr ich mit der Bahn in den Schwarzwald. Die Leute im Zug beäugten mich misstrauisch, sie verstanden meinen Style nicht, hatten Angst vor mir. Vor ihnen stand ein großer, dünner junger Mann mit gefärbten Haaren und einem zerrissenen blauen Anzug, der vormals einem kleinen dicken Mann gehört hatte. Ich trug eine Spiegelbrille, und die Hose hatte ich mit Sachsband zusammengebunden. Ich rollte auf meinem kleinen blauen Skateboard den Gang entlang und sah meiner Meinung nach sexy aus. Für die Mitreisenden war ich nicht definierbar, weder als Punk noch als Penner. Ich war ein Fremdkörper. Man ging mir aus dem Weg. Und mir ging es genauso. Die Leute waren mir so fremd, ich verstand ihren Style nicht, ihre Schnurrbärte, Mittelscheitel, Stonewashed-Häute, Pullover mit Teddybäraufdrucken, Pianotastaturschlipse, ihre visionslose Egal-Haltung, mir war nichts egal, ich ging ihnen aus dem Weg, sie kamen mir vor wie Zombies. Von Freiburg aus fuhr ich mit einer kleinen Bummelbahn ein steiles Tal hinauf und ging dann zu Fuß durch die Berglandschaft weiter. Das genoss ich sehr, meine Gene (beziehungsweise die meiner bayerischen Vorfahren) bellten mich innerlich an: «Des iss es! Do kommst her, du Hirsch, do gehst wider hi, host me?» Ich fühlte mich glücklich, unbeobachtet von den argwöhnischen Blicken der Schläfer, wie ein Vagabund, mit einem Wort: vogelfrei.
Ich wanderte Stunden durch den Wald und über lang gedehnte Hügelrücken, vorbei an Dörfern unter mir und vereinzelten Höfen, bis ich schließlich in die Nähe meines Ziels kam. Von einer Telefonzelle an einer Bushaltestelle aus rief ich Maria an. Sie war gerade in der Mittagspause und versprach freudig erregt, mir entgegenzukommen. Ich hatte ein Bündel mit Brot und gekochten, in Scheiben geschnittenen Eiern dabei. Auf dem weiteren Weg ließ ich alle paar Meter eine Eischeibe auf den Boden fallen. Als Wegzeichen. Wann würde ich sie sehen, wie würde sie wohl aussehen? Vielleicht hatte sie sich zum Schlechten verändert? Wer kann das wissen? Kommst du umme Kurve, steht da eine, die dir gar nicht gefällt. Und dann? Ich baute auf meine Erinnerung und war mir ganz sicher: Sie war sie. Hinter einem kleinen Felsen führte die Landstraße in einer langen Geraden bergauf, die links und rechts von ein paar Tannen gesäumt war. Am Ende der Geraden erschien sie. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, der Weg war noch so lang. Wie sollte ich mich verhalten, wo hingucken? Die ganze Zeit zu ihr schauen, doof grinsen und winken? Das war mir zu dämlich. Ich schaute auf den Boden, zur Seite, dann immer wieder zu ihr. Sie lachte, wusste aber auch nicht, wie sie sich verhalten sollte. Dieser beknackte lange Weg, peinlicher Weg, peinlich! Wir gingen, guckten auf unsere Füße, zur Seite, nach oben und uns immer wieder an, bis wir nach einer Ewigkeit aufeinander trafen. Was für eine Erlösung, die Nähe wischte die Pein sofort weg, wir verschmolzen. Ich warf die restlichen Eischeiben auf den Boden. Hier war etwas Entscheidendes passiert, das würden Forscher später bei der Untersuchung meiner Eierspur feststellen. Schließlich lösten wir uns voneinander und gingen gemeinsam den Weg hinauf zu ihrem Kinderheim. Wir verschwanden sofort in ihrem kleinen Zimmer und schlossen uns dort ein. Und die Berge und die Kinder und die Zugreisenden und die ganze Welt versanken hinter uns für zwei kurze Tage, die mir wie die Ewigkeit vorkamen.
Nachdem Maria drei Monate später aus dem Schwarzwald zurückgekehrt war, beschloss sie ziemlich schnell, nach Hamburg zu ziehen. Sie wollte raus aus der Kleinstadt, weg von zu Hause, selbständig leben. Das ging mir
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