Dorfpunks (German Edition)
Hosen aus Schmalenstedt, und wir spielen jetzt hier unsere neuen Songs für euch.»
Das war schon mal eine ganz gekonnte Ansage. Viele der Leute im Saal drehten sich in Richtung Bühne und wunderten sich, wer denn jetzt noch spielen sollte, nach den Hosen, und warum die Band auch Tote Hosen hieß. Fliegevogel zählte an, wir wollten mit «Hallo, wir sind die Amigos» anfangen. Aber nach dem ersten Akkord hörte Fliegevogel auf zu spielen und meinte, die Gitarre sei verstimmt, er müsse sie erst mal tunen. Etwas verunsichert blieb ich stehen und guckte ratlos ins Publikum. Fliegevogel drehte wahllos an der Stimmmechanik, probierte mal hier, mal dort, überlegte, drehte dann eine andere Saite ein Stück weiter, kurzum, er begann mit einer Stimmarie von unbekannten Ausmaßen. Mit jeder Saite, die er drehte, schienen sich die anderen weiter zu verstimmen. Dabei wankte er die ganze Zeit leicht nach allen Seiten. Um sich hören zu können, hatte er den Verstärker ziemlich laut aufgedreht, und so musste der ganze Saal das unerträglich lahme Genödele minutenlang mit anhören. Zwischendurch sprang ich immer wieder ans Mikrophon und versprach, dass es gleich losgehen werde. Aber es ging nicht los, es war Fliegevogels große Tuningstunde: «Wie schaffe ich es, sechs Saiten in fünfzehn Minuten aus jedem möglichen tonalen Zusammenhang herauszureißen?» Ich konnte es nicht glauben. Unsere große Chance zerfloss in unseren Händen, ein Kopf nach dem anderen wendete sich ab und drängte zum Ausgang, eben waren noch 600 Leute im Saal, jetzt noch 300, gleich vielleicht noch 50 – Fliegevogel, siehst du’s denn nicht? Unsere Zukunft! Schließlich war der Saal leer. Ich ging wortlos von der Bühne. Um die Ecke standen die Hosen, die bereits früher gelangweilt den Raum verlassen hatten. Dennoch luden sie uns ein, mit ihnen um die Häuser zu ziehen.
Später in jener Nacht krabbelten Campi und ich noch im Risiko über den Fußboden und knoteten die Schnürbänder der Anwesenden zusammen. Das war Campis Aufnahmeprüfung für den Club der Gemeinen. Fliegevogel machte sich an die Freundin von Bela B. ran, und es kam fast noch zum Eklat.
Aber am nächsten Tag brach der Frust über die verpasste Chance wieder in mir durch. Die Chance für uns Dorftypen, in der Großstadt für eine Nacht das coole Ding zu sein. Wir hatten kein Geld mehr. Ich wollte nach Hause. Wir trampten zurück.
Der Hafen der Liebe
Unserer Szene ging langsam die Luft aus. In diesem für mich damals unendlich langen Zeitraum von vier Jahren machten sich zum Ende hin die Zeichen des Niedergangs unübersehbar bemerkbar. Die Punkbewegung war überall anderswo schon längst gestorben, hier bei uns starb sie nochmal. Das zu erleben war frustrierend für mich. Denn die Gründe für diesen Niedergang waren eher profaner Natur. Wir fielen nicht auf dem Schlachtfeld der Revolution oder versanken im Sumpf von Drogen und Gewalt, die Gründe waren überaus alltäglich: Faulheit, Müdigkeit wegen des Berufsalltags und vor allem die Einrichtung von Nestern privater Zweisamkeit. Diese verdammte Liebe raubte uns einen Kämpfer nach dem anderen. Die derbsten Durchdreher wurden zu handzahmen Kuschelhasen. Wie konnten sich Punks bloß so verändern? Ich schwor mir mit Piekmeier, dass wir nie so werden würden wie diese ganzen verräterischen Aussteiger. Wir würden noch mit achtzig Jahren oben beim Friedrichsturm auf der Bank sitzen, mit lila Glatze und Bart-Irokese, rumkrakeelen und Noli trinken.
Anrufe bei den Aussteigern waren zwecklos. «Nee, heute nicht, nee, wir sind schon im Bett, am Wochenende vielleicht, och nee … kein Bock …!» Wie konnte man mit achtzehn schon so tot sein? Dabei war mein Leben eigentlich nicht viel anders, ich fuhr schließlich auch jeden Tag zur Arbeit, musste relativ früh ins Bett und früh aufstehen, ging nur am Wochenende richtig aus. Aber ich machte es mir wenigstens nicht gemütlich, sondern saß zu Hause und schmiedete Pläne, erschuf Lieder, Fanzines, Klamotten, alles unter der klirrenden Sonne von Punkrock.
Ich konnte mir nicht vorstellen, was das wohl für ein Gefühl sein sollte: Liebe. Ich kannte oberflächlich die Aufregung des Verliebtseins, sexuelle Anziehung, und konnte nachvollziehen, dass Paare Beständigkeit in ihrer Beziehung suchten. Aber dieses viel beschworene Gefühl von Liebe – was war denn das wirklich? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es wichtiger, größer, umfassender sein sollte als das Gefühl für die
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