Dornen der Leidenschaft
da. Sie war lebendig. Nicht mehr nur ein kleines Bild in seiner Uhr, sondern eine lebendige Frau, die vor ihm stand und ihn anstarrte, als wäre er ein Geist.
Salvadors Herz schlug heftig. Es war ihm, als ob seine Brust springen würde. Er wollte auf sie zueilen, sie in die Arme nehmen und sie so lange leidenschaftlich küssen, bis sie sich ihm aus ganzem Herzen hingab. Und in diesem Augenblick schwor er sich, daß er sie niemals verlassen würde.
»Querida« ,stieß er aus. »Muñeca mía. «
Aurora hörte seine Worte nicht. Sie war genau wie er überwältigt. Es war, als ob sie sich vor vielen hundert Jahren schon gekannt hätten, als ob eine unbekannte Kraft sie jetzt hierher und wieder zusammengeführt hätte. Ein sanfter Wind kam auf und fuhr durch die Bäume, und Esplendor erwachte, nachdem es dreihundert Jahre gewartet hatte, um zu neuem Leben erweckt zu werden.
Aurora dachte: Er ist gekommen. Endlich ist mein Geliebter gekommen.
Mehr wußte sie nicht. Es wurde dunkel um sie herum, und sie fiel in Ohnmacht.
Mit wenigen Schritten war Salvador bei ihr, hob ihre zarte Gestalt vorsichtig auf die Arme und trug sie ins Haus. Mit traumwandlerischer Sicherheit ging er durch die Räume, bis er im kleinen Salon ankam. Er fragte sich nicht einmal, wieso er sich hier auskannte, denn vom ersten Augenblick an war ihm klar gewesen, daß er nach Hause gekommen war.
Vorsichtig legte er Aurora auf das Sofa. Dann entdeckte er frisches Wasser in einer Vase, befeuchtete sein Taschentuch und wischte ihr zärtlich das Gesicht und die Handgelenke damit ab. Er hätte weinen mögen. Von der Schönheit des jungen Mädchens war er so hingerissen gewesen, daß er einen Augenblick lang sein Herz für die Liebe geöffnet hatte. Aber das durfte nicht noch einmal passieren. Er hatte nur ein paar Minuten mit ihr verbracht, und schon war sie ohnmächtig geworden. Welches Unglück würde ihr nach einer Stunde, nach einem Tag passieren, wenn er sich erlaubte, sie zu lieben? Denn seine Liebe war ein Fluch. Jeder Mensch, den er bisher geliebt hatte, hatte darunter zu leiden gehabt.
Jetzt öffnete sie die Augen.
»Doña Aurora«, sagte er höflich und wehrte sich gegen den Impuls, sie noch einmal in die Arme zu nehmen, »geht es Ihnen besser?«
»Sie – Sie kennen meinen Namen? Wie das?« fragte sie und war sich nicht sicher, ob sie träumte.
»Sí, Señorita. Ich war ein Freund von – von Don Basilio und Doña Francisca. Ihr Bruder hat oft von Ihnen erzählt. Ich werde La Aguila genannt. Hat er … mich nie erwähnt?«
»Nein, Señor. Aber als ich in Esplendor ankam, war er … schon sehr krank. Manchmal hat er mich nicht einmal mehr erkannt. Er ist – inzwischen gestorben, müssen Sie wissen«, sagte Aurora leise und seufzte.
»Sí. Deshalb bin ich hergekommen«, erklärte Salvador mit freundlicher, aber reservierter Stimme, und kämpfte gegen sein Verlangen, sie in seine Arme zu schließen und sie zu beschützen. »Doña Aurora, verzeihen Sie mir, aber … Es geht Ihnen nicht gut. Wo sind die Diener? Kann ich klingeln?«
»Nein. Nein, Señor. Es geht mir gut«, erwiderte sie und setzte sich auf. »Es war nur die Hitze. Sí. Und was die Hausangestellten angeht, sie arbeiten auf den Feldern und in der Küche. Wie Sie sich vorstellen können, haben wir hier eine schwere Zeit, jetzt, nach dem Tod meines Bruders. Ich fürchte, daß wir keine guten Gastgeber sein können, Señor. Sind Sie – von weit her gekommen?«
»Si, von Tejas, in den Estados Unidos. Aber ich bin kein Gast hier, Señorita. Ich fürchte, daß ich Ihnen einen Schock nicht ersparen kann. Vor seinem Tode hat Ihr Bruder die Besitzurkunde von Esplendor auf mich überschrieben, und sein ehemaliger Diener, Gilberto Huelva, hat mir die Urkunde nach Laredo gebracht. Ich bin der neue Besitzer.«
»Nein!« rief Aurora überrascht aus. »Das kann nicht wahr sein!«
»Ich versichere Ihnen, daß es so ist, Señorita. Hier ist die Urkunde.« Der Visconde zog das Pergament aus seiner Tasche. »Sie können es natürlich einem Rechtsanwalt zeigen, wenn Sie das wünschen, aber ich versichere Ihnen, daß alles seine Ordnung hat.«
Das Mädchen starrte die Urkunde entsetzt an. Sie kannte sich in solchen Dingen nicht gut aus, aber das Dokument wirkte echt. Obwohl sie die gekritzelten Worte und die Unterschrift kaum lesen konnte, bestand doch kein Zweifel daran, daß es sich hierbei um die Handschrift ihres Bruders handelte.
Sie reichte Salvador noch ganz benommen das Dokument
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