Dornen der Leidenschaft
sie fester.
»Ich habe daran gedacht, daß ich eines Tages als sehr alter Mann hier auf einem Schaukelstuhl sitzen werde. Und weißt du was?«
»Was?« fragte Aurora neugierig.
»Dann schaue ich dich an, du sitzt direkt neben mir, und dann weiß ich, daß mein Leben reich und schön war, weil ich es mit dir zusammen verbringen durfte.«
»Ach, Salvador.«
Aurora schossen die Tränen in die Augen. Wie wunderschön war es, so sehr geliebt zu werden. Sie war die glücklichste Frau der Welt. Gott hatte ihr das Augenlicht genommen – vielleicht für immer –, das war tragisch. Aber er hatte ihr auch Salvador geschenkt, der ihr Leben mit Licht und Liebe füllte.
»Hör mal!« sagte sie plötzlich und lauschte. »Kannst du es hören?«
»Was denn, querida?« fragte der Visconde und lauschte.
»Da … Nein … Jetzt ist es still. Ich hätte schwören können, daß die Angelusglocke geläutet hat.«
»Dann hörst du sie auch«, murmelte Salvador leise und schauderte. »Ich weiß, daß es nicht möglich ist, aber manchmal könnte ich Gift drauf nehmen, daß die Glocke läutet. So, als wolle sie uns etwas sagen …«
»Was denn nur?«
»Ich weiß es nicht.« Der Visconde schüttelte den Kopf. »Komm, wir gehen ins Haus, muñeca. Es ist schon spät.«
In dieser Nacht träumte Aurora so lebhaft wie schon lange nicht mehr. Im Traum hatte sie sich im Urwald verirrt und wußte nicht, in welche Richtung sie gehen sollte. Plötzlich fing die Angelusglocke von Esplendor in der Ferne zu läuten an, wurde lauter und lauter …
Aurora erwachte und begriff nach einigen Augenblicken der Verwirrtheit, daß sie nicht mehr träumte, daß aber die Glocke tatsächlich läutete! Salvador mußte es auch gehört haben, denn er lag nicht mehr neben ihr im Bett, sondern suchte fluchend im Dunkeln nach seiner Hose und stieß sich an einem Tisch. Aurora mußte lächeln, weil sie sich inzwischen in der Dunkelheit sehr viel sicherer bewegen konnte als ihr Mann. Sie erhob sich, streifte ihr Kleid über und zündete eine Öllampe an, damit ihr Mann sehen konnte.
»Es ist doch die Glocke, nicht wahr!« fragte sie. »Ich phantasiere das doch nicht? Die Angelusglocke läutet tatsächlich.«
»Si. Ich weiß nicht wie, aber sie läutet«, sagte Salvador. »Warte hier, querida. Ich bin gleich zurück.«
Er nahm seinen Degen und die Lampe und verließ das Zimmer. Die langen Korridore des Hauses wirkten in der Dunkelheit gespenstisch. Aber der Visconde fürchtete sich nicht. Er war hier zu Hause. Er wunderte sich nur darüber, warum sich niemand wie er auf den Weg gemacht hatte, um hinter das Geheimnis des unerklärlichen Glockenläutens zu kommen. Alle Bewohner Esplendors lagen bestimmt gelähmt vor Angst in ihren Betten.
Das Dachgeschoß des Hauses war noch nicht erneuert worden, und Salvador stieg vorsichtig die wurmstichigen Stiegen zum Dachboden hinauf. Langsam öffnete er die Tür und spähte hinein. Nichts deutete darauf hin, daß sich irgend jemand hier oben aufhielt. Trotzdem war der Visconde sehr vorsichtig, als er nacheinander in die vielen Bodenkammern schaute. Ursprünglich hatte hier oben die Dienerschaft gewohnt, und es standen noch einzelne, alte Möbelstücke in den kleinen Räumen. Bei jedem seiner Schritte wirbelte feiner Staub auf, und der Visconde mußte husten. Plötzlich hatte er das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Einen Augenblick lang empfand er Angst, dann jedoch lachte er und zwang sich, weiterzugehen. Das war ja lächerlich! Wer um alles in der Welt konnte ein Interesse daran haben, zu dieser Stunde auf dem Dachboden herumzukriechen? Er hob seine Lampe, um besser sehen zu können.
Doch, jemand mußte kürzlich hier gewesen sein, denn jetzt erkannte der Visconde deutlich frische Fußspuren in der dicken Staubschicht, die den Boden bedeckte. Es waren große Fußspuren von … Paul Van Klaas? War es möglich, daß der Holländer hier eingedrungen war? Hatte er es gewagt, mitten in der Nacht in ihr Haus einzubrechen?
Jetzt hatte der Visconde das Zimmer erreicht, in der die Angelusglocke lag. Langsam öffnete er die Tür. Die massiv goldene Glocke war woanders hingerollt worden, jemand hatte versucht, sie zu stehlen, und dabei hatte sie ein paar Töne von sich gegeben. Das war des Rätsels Lösung.
Jetzt war Salvador sicherer denn je, daß der Holländer der Eindringling war. Nur ein Riese wie er war kräftig genug, um die schwere Glocke bewegen zu können. Wieder blieb Salvador stehen und lauschte
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