Dornen der Leidenschaft
angestrengt. Eigentlich wollte er sich über die Glocke beugen, um sie genau zu untersuchen, aber irgend etwas hielt ihn davon ab. Auf dem Dachboden war es still, zu still. Er erinnerte sich daran, wie es gewesen war, als er mit seinem Cousin Rafael früher Versteck gespielt hatte. Der Visconde hatte immer genau gespürt, wenn er in die Nähe von Rafael kam, irgendein winziges Geräusch war immer zu hören gewesen.
Gerade als ein dicker Bettpfosten auf ihn niederkrachte, sprang Salvador zur Seite. Der Pfosten erwischte ihn noch an der Schulter, er stolperte und fiel über die Glocke. Bevor er wußte, wie ihm geschah, stürmte eine dunkle Gestalt aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Der Visconde fluchte, sprang ächzend auf und rannte los, um den Eindringling zu verfolgen.
In diesem Moment verfluchte Aurora ihre Blindheit, die es ihr unmöglich machte, ihrem Mann beizustehen. Sie ging nervös im Schlafzimmer auf und ab und wartete auf seine Rückkehr. Da sie die Uhr auf dem Ankleidetisch nicht sehen konnte, wußte sie nicht, wie lange er schon weg war, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Allmählich wurde sie ängstlich. Was war geschehen? Die Angelusglocke hatte zu läuten aufgehört. Warum kam ihr Mann nicht zurück?
Irgend etwas war geschehen, dessen war sie sich ganz sicher. Als sie einen lauten Schlag hörte, hielt es sie nicht länger. Aurora wußte, in welch schlechtem Zustand die Fußböden im Dachgeschoß waren, es konnte sein, daß Salvador eingebrochen war, sich verletzt hatte und Hilfe brauchte.
Aurora ging so schnell wie möglich in die Halle, und blieb dort zögernd stehen. War die Treppe zum Dachboden links oder rechts von ihr? Großer Gott, warum mußte sie blind sein! Salvador brauchte vielleicht nötig ihre Hilfe!
»Nicolas! Lupe!« schrie sie. »Wacht auf! Wacht auf!«
Zum Glück kam jemand, sie hörte Schritte im Korridor.
»Nicolas?«
Aber wer immer es war, es war bestimmt nicht ihr Bruder. Ein großer, schwerer Mensch stürmte auf sie zu und rannte sie um. Er fluchte, und sie wurde brutal an die Wand geschleudert. Sie rappelte sich wieder auf und fragte verzweifelt: »Wer ist da? Nicolas! Lupe!«
Niemand antwortete. Sie hörte, wie jemand die Haupttreppe hinuntersprang und die Haustür hinter sich zuschlug. Wenige Augenblicke später war das Hufgetrampel eines davongaloppierenden Pferdes zu hören.
Dann stand ihr Mann plötzlich neben ihr und umarmte sie besorgt.
»Aurora! Ist alles in Ordnung?« fragte er sie.
»Salvador? Sí, sí. Mir geht es gut, ich habe nur Angst«, stammelte sie und presste ihren zitternden Körper an den seinen. »Madre de Dios, was ist los? Wer war das? Heridas de Cristo! Rauch! Es riecht nach Feuer …«
»Mierda! Die Öllampe«, schrie der Visconde. Als er gestolpert und hingefallen war, war sie ihm aus der Hand gerutscht, und beim Versuch, den Eindringling zu verfolgen und zu fangen, hatte er sie vergessen … »Mein Gott, die Öllampe! Ich bin gleich zurück, querida. Nicolas und Lupe, Gott sei dank seid ihr endlich da. Nicolas, hol ein paar Decken, und komm so schnell wie möglich auf den Dachboden. Lupe, kümmere dich um deine Herrin«, rief er und hastete davon.
Obwohl Lupe noch verschlafen war, führte sie die protestierende Aurora zurück ins Schlafzimmer.
»Sie haben gehört, was el patron gesagt hat«, meinte sie. »Seien Sie vernünftig, Señora. Die Aufregung ist zuviel für Sie. Legen Sie sich hin, sonst werden Sie ohnmächtig.«
»Nein. Es geht mir gleich wieder gut«, sagte Aurora kleinlaut, obwohl ihr Kopf, den sie sich an der Wand angeschlagen hatte, schmerzte.
Als Salvador zurückkam, war sie gerade eingeschlafen. Aber beim Geräusch seiner Schritte setzte sie sich sofort auf.
»Salvador?«
»Sí, ich bin’s, muñeca. Warum schläfst du nicht?«
»Ich – ist das Feuer gelöscht?«
»Sí. Es fing gerade an, sich auszubreiten, als Nicolas und ich hochkamen. Gott sei Dank habe ich noch an die Öllampe gedacht, sonst wäre das ganze Haus abgebrannt. Der Schaden hält sich in Grenzen, zum Glück haben wir das Dachgeschoß noch nicht restauriert.«
Er wusch sich von Kopf bis Fuß und setzte sich dann ans Bett.
»Salvador, was war heute nacht los? Ist jemand eingebrochen? Bitte sag mir die Wahrheit, schone mich nicht, nur weil ich blind bin!«
Der Visconde lächelte seine Frau an.
»Wie gut du meine Gedanken lesen kannst, querida« ,meinte er. »Aber ich wollte dir sowieso alles, was ich weiß, erzählen. Ja, es
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