Dornenkuss
Mama hatte sogar schon angefangen, um ihn zu trauern. Mein Magen verkrampfte sich bei jedem Telefonklingeln, das durch das stille Haus schallte, weil ich hoffte, er sei der Anrufer. Doch dieses Land hatte ihn verschluckt. Über Information eins wollte ich nie lange nachdenken. Sie schmerzte mich zu sehr, schnürte mir die Kehle zu.
Also weiter zu Information Nummer zwei: Tessas Lebensmittelpunkt befand sich angeblich in Süditalien. Tessa. Oh Gott, Tessa … Colins Mutter. Und Geliebte. Sie war so alt und mächtig, dass selbst ein brutaler Genickbruch ihrem irren, lüsternen Kichern nichts anhaben konnte. Sie hatte Colins Leben von Beginn an beeinflusst und unterwandert; sie spürte ihn gnadenlos auf, sobald er glücklich war, um sich zu nehmen, was sie als ihr Eigentum betrachtete: ihr Kind. Colin Jeremiah Blackburn, meine große Liebe und, wie es schien, mein düsteres Schicksal. Ich konnte nicht an Colin denken, ohne an Tessa zu denken, aber ich konnte auch nicht an Colin denken, ohne an François zu denken, jenen Mahr, der meinen Bruder befallen und ihm jegliche Lebensenergie aus dem Leib gesaugt hatte, bis Paul an einer Herzschwäche erkrankte und beinahe starb. In letzter Sekunde hatten Gianna und Tillmann ihn wiederbeleben können.
»Verflucht, da muss es doch einen Zusammenhang geben!« Ich schrak zusammen und lauschte argwöhnisch, als ich bemerkte, dass ich meine Gedanken versehentlich laut ausgesprochen hatte – ein Ausruf, der sich anhörte wie das aufgebrachte Zischen einer Schlange. Ich mahnte mich trotz meiner bleischweren Lider und dem Schwindelgefühl in meinem Kopf zur Konzentration. Wenn ich schon nachdachte, bis die Sonne sich zeigte, sollte ich es vernünftig tun.
Ich war bei Information Nummer zwei stehen geblieben. Tessa. Tessa, die sich erneut auf den Weg gemacht hatte, um Colin heimzusuchen, weil wir für einen kurzen Moment Glück empfunden hatten. War es wirklich Glück gewesen? Oder hatten wir sie lediglich provoziert? Was würde sie wütender machen? Mit einem beunruhigenden Gefühlsmix aus Erregung und Wut dachte ich an jene Minuten zurück, die Colin und ich im Wald bei den Wölfen verbracht hatten, nachdem François raubunfähig geworden war und Colin sich von seiner Vergiftung befreit hatte. Ich war geradezu berauscht gewesen und sicher, alle Hürden überwinden zu können, wenn wir nur um unser Glück kämpfen und versuchen würden, Tessa zu töten.
»Tessa töten …«, flüsterte ich mit jähem Spott mir selbst gegenüber. Tessa töten? Ja, es war der einzige Weg, der Colin und mir eine Zukunft ermöglichen konnte, und es gab vielleicht eine Tötungsmethode, von der ich noch nichts wusste und die Colin mir überbringen wollte. Das hatte er mir versprochen. Doch nachdem die Euphorie des Sieges über François abgeklungen war und meine Wunden zu schmerzen begonnen hatten, war mir langsam bewusst geworden, was wir uns da vorgenommen hatten.
Wir, nicht ich. Ich war nicht die Einzige, die Tessa tot sehen wollte. Tillmann wollte es auch. Sein Leben hatte sie ebenfalls verdunkelt. Nicht nur das – sie hatte seinen Körper verändert, ihn schneller reifen lassen, ihm seine Fähigkeit zu schlafen geraubt. Und wenn Colin nur einen Funken Verstand in seinem sturen Mahrschädel hatte, würde er sie ebenfalls töten wollen. Alles, was ihm in seinem Dasein Schreckliches widerfahren war, hatte er ihrem Fluch zu verdanken. Ob sie ihn dieses Mal eingeholt hatte? Hatte er überhaupt fliehen können? Oder hatte sie den Dämon in ihm neu entfacht?
Ich rieb meine Füße nervös aneinander. Wie immer beim Nachdenken blieb ich bei Information Nummer zwei hängen und kam nicht weiter. Allein Tessas Name ließ mich innerlich erstarren. Im Frühjahr hatte François sie für eine Weile aus meinem Kopf verdrängen können; meinem Bruder war es so schlecht gegangen, dass wir darauf bauen mussten, ihn erlösen zu können und Tessa dabei nicht versehentlich anzulocken. Was funktioniert hatte, da Colin auf einer Insel lebte und wir bei unseren wenigen Begegnungen auf dem Festland nicht sonderlich glücklich miteinander waren – jedenfalls nicht dauerhaft. Doch jetzt gab es zwei Mahre, die ungefragt in meine nächtlichen Träume eindrangen und mich schweißgebadet hochschrecken ließen: François, dieser schleimige, gierige Wandelgänger, der mich fast bei lebendigem Leibe hatte verwesen lassen, als ich ihn bei seinem Befall erwischte, und Tessa, die François’ ohnehin schon ekelerregende Bösartigkeit
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