Dornenkuss - Roman
zu hieven. Die Scherben ließ ich liegen. Darum konnte ich mich morgen kümmern. Jetzt musste ich schlafen. Lange und fest schlafen. Doch bevor meine Lider zufielen, wandte ich mein Gesicht noch einmal Gianna zu und sah sie fest an.
»Gianna, ich habe gestern Abend nicht gescherzt. Colin hat mir eine Nachricht überbracht – eine Art Formel. Gerade eben. Ich weiß sie im Moment nur nicht mehr.« Ich war so müde, dass ich lallte.
Gianna schüttelte den Kopf, doch in ihren Augen keimte furchtsame Erkenntnis auf. Ich machte keine Witze. Vor wenigen Minuten war etwas Wichtiges geschehen. Etwas, was mich hätte umbringen können. Das spürte ich genau. Gianna spürte es auch.
»Du bist ganz schön hart im Nehmen, Ellie«, hörte ich sie noch sagen, bevor das Licht ausging und die Tür ins Schloss fiel.
»Bin ich nicht«, widersprach ich leise und weinte mich mit lautlosen, hungrigen Schluchzern in die Bewusstlosigkeit.
I T ’ S TEATIME
Ich benötigte drei Anläufe, bis ich endlich das brummende Handy aus den Scherben neben meinem Bett gefischt und unter Ächzen an mein Ohr geführt hatte. Normalerweise hätte ich sein Vibrieren ignoriert. Ich fühlte mich nicht in der Lage, mehr zu tun, als mich ins Bad zu schleppen und zu duschen, und selbst darüber dachte ich schon seit Minuten nach, ohne mich aufraffen zu können. Telefonieren war anstrengender als Duschen, denn dabei musste ich sprechen und mein Mund schmerzte ebenso wie meine rechte Schläfe, mein Schultergelenk und meine Knie. Außerdem spannte meine Haut, als hätte jemand mindestens einen Quadratmeter davon herausgeschnitten und den Rest mit Gewalt über meinen Knochen zusammengenäht. Nur eine Bewegung zu viel und sie würde reißen – überall. Ich fasste an meinen Hinterkopf. Meine Haare klebten aneinander, das Blut war getrocknet. Die Wunde kitzelte, als ich sie berührte, und schlagartig begannen meine Ohren zu sirren.
Doch es konnte sein, dass Tillmann oder Paul anrief. Wer außer ihnen würde es so lange läuten lassen? Ich konnte es mir nicht erlauben, das Brummen zu ignorieren. Sonst musste ich heute Nachmittag Locken in Giannas Haar drehen oder einen Kuchen backen.
»Ja, hallo?«, murmelte ich mit belegter Stimme.
»Moin, Stürmchen! Na, wach?«
Mit einem gepeinigten Seufzen drückte ich mein Gesicht ins Kissen.
»Lars, ich hab doch gesagt, du sollst nicht mehr anrufen …«
»Jou.« Ich hörte, wie er seine Hanteln ein Stück höher legte. Anscheinend konnte er nicht mehr trainieren, ohne mich dabei telefonisch zu belästigen. Es gab einen Rumms in der Leitung und auch er ächzte. Er lag wieder auf seiner Bank. Schwitzend wahrscheinlich. »Wenn Frauen Nein sagen, meinen sie Ja, das wissen wir doch.« Er lachte dröhnend. »Gell, Stürmchen?«
»Nein«, erwiderte ich kühl. Das Ziehen in meiner Schläfe verwandelte sich in ein Pochen. Wieso tat der Stoß an der Bettkante, den ich mir selbst zugefügt hatte, mehr weh als der Schnitt am Kopf? Mit meiner freien Hand begann ich sie zu massieren und zuckte zusammen, als meine Finger über die Schwellung neben meinem Auge tasteten. »Alles okay da unten im Westerwald, hm? Los, Sturm, Bericht ablegen, zack, zack …«
Ich schwieg. Manchmal half das. Dann verlor Lars die Lust, plärrte noch ein paar frauenfeindliche Sprüche in den Hörer und legte schließlich auf, um weiter Gewichte in die Höhe zu stemmen. Seit Tagen schon rief Lars regelmäßig an – genau genommen, seitdem seine Frau ihn verlassen hatte, eine Tat, die von einer Einsicht und Weisheit zeugte, die ich dieser blondierten Solariumsüchtigen niemals zugetraut hätte.
Lars war unausgeglichen, ihm fehlte das weibliche Gegenüber, an dem er seinen Testosteronüberschuss abreagieren konnte. Nun war ich sein neues Opfer und überdies hatte er sich in den Kopf gesetzt herauszufinden, was genau ich mit dem Kampf gemeint hatte, bei dem ich hätte draufgehen können, als ich mich nach unserem letzten Training von ihm verabschiedet hatte. Es ließ ihm keine Ruhe. Ich bereute bitter, ihm davon erzählt zu haben, denn jetzt hatte er einen Anhaltspunkt und war nicht willens, ihn zu vergessen.
Er rief nicht nur bei mir an, sondern auch bei Mama, die ihn »gar nicht sooo schlimm« fand. Immerhin mache er sich Sorgen um mich. Ich interpretierte das anders. Er mutierte zum Stalker. Mama trug nicht unwesentlich Schuld daran, da sie ihm in einem weichherzigen Moment meine Handynummer gegeben hatte. Das hatte ich nun davon. Ihm hatte ich
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