Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
Vom Netzwerk:
und flitzte durch die Küche in den Flur. Düdeldidüdeldidü.
    Plötzlich zögerte ich. Was, wenn es die anderen waren? Wenn sie mich unter einem Vorwand zu sich lockten, fort von hier? War es nicht leichtsinnig abzunehmen? Es würde genügen, den Stecker herauszuziehen, um dem lästigen Klingeln ein Ende zu setzen. Andererseits würde ich dann nie erfahren, wer versucht hatte, mich zu erreichen. Kurz entschlossen griff ich nach dem Hörer und hob ihn an mein Ohr.
    Ich hatte die Bewegung noch nicht zu Ende ausgeführt, als meine Knie nachgaben und ich meinen Rücken gegen die Wand pressen musste, um nicht auf den Hintern zu fallen. Das Meer schien mir entgegenzubrausen, ein gewalttätiges und dennoch behäbiges Auf und Ab der Wellen. Ich hielt den Hörer ein Stück von meinem Ohr weg, doch das nutzte nicht viel. Das Rauschen brandete direkt in meinen Kopf und setzte sich dort fest. Auf und ab … auf und ab …
    Erlaubte sich da jemand einen Scherz? Oder saß der Anrufer irgendwo am Strand, wie Angelo und ich eben noch, und war versehentlich auf die Tasten seines Handys geraten? Ja, so musste es sein, das war nur Meeresrauschen, mehr nicht.
    Trotzdem blieb ich stehen, mit eingeknickten Knien und dem Rücken an der Wand, und konnte mich nicht überwinden, den Hörer sinken zu lassen. Tobte da nicht auch ein Sturm, im gleichen Rhythmus mit den Wellen? Aber wir hatten keinen Sturm. Was für ein kurioser Zufall, dass sich jemand verwählt hatte, der sich gerade am Meer befand wie ich – allerdings an einem Ort, wo ein Sturm aufgezogen war. Kein Pfeifen und Heulen, sondern ein gleichmäßig getaktetes Brausen. Solch einen Sturm gab es doch gar nicht.
    »Pronto?«, benutzte ich sicherheitshalber jene Floskel, mit der sich die Italiener am Telefon meldeten und die wörtlich übersetzt so viel hieß wie »bereit«. Ja, ich war bereit und wollte, dass der Anrufer schnell machte und mich rasch wieder an den Strand entließ. Dieser Flur war zu eng und stickig. Hier konnte man ja kaum Luft holen. Ach, wie lästig es doch war, immerzu Luft holen zu müssen …
    »Hallo!«, versuchte ich es auf Deutsch, als niemand reagierte. »Wer ist denn da?«
    Ob ich mal den Spruch austesten sollte, den Gianna mir beigebracht hatte? Was willst du, Schwanz? Möglicherweise genügte er, um dem Anrufer das Vergnügen an seinem Streich zu nehmen. Doch er wollte nicht über meine Lippen kommen; irgendetwas in mir warnte mich, dass er völlig unangebracht war.
    Das Rauschen der Brandung nahm kein Ende, es musste ein langer, weiter Strand sein, auf dem die Wellen sich brachen, hohe Wellen, die etliche Sekunden benötigten, um sich aufzubauen und wieder abzuflachen. Oder war es doch ein … ein Atmen? Atmete da jemand? Wieder wollten meine Knie weich werden, doch ich drückte sie unbarmherzig durch, damit sie mich hielten. Sie knackten trocken.
    Nun verstummte das Rauschen, als habe jemand die Wellen angehalten. Ich nahm den Hörer wieder an mein Ohr.
    »Thira«, sagte eine Stimme, der keinerlei Geschlecht zuzuordnen war, es konnte eine tiefe Frauenstimme sein oder aber eine musikalische, sensible Männerstimme – ich vermochte es beim besten Willen nicht, sie zu klassifizieren. Und was nur meinte sie mit Thira? Hier lebte keine Thira.
    »Ich glaube, Sie haben sich verwählt. Ich lege wieder auf, in Ordnung?«
    »Thira«, wiederholte die Stimme. Geschlechtslos, aber uralt. Sie zitterte und bebte nicht und brüchig war sie schon gar nicht. Aber niemals konnte sie einem jungen Menschen gehören. Sie kam mir außerdem bekannt vor, als habe sie schon einmal mit mir gesprochen … Oder bildete ich mir das nur ein?
    »Thira. Schnell.«
    Das Rauschen erhob sich von Neuem, doch dann klickte es in der Leitung und nach einer kurzen Pause dütete das Freizeichen. Der helle Ton war mir so unangenehm, dass ich den Hörer wieder vom Ohr nahm. Aber ich besaß noch nicht die Geistesgegenwart, ihn zurück auf die Gabel zu legen und den Stecker herauszuziehen. Stattdessen stand ich wie versteinert im Flur und sah zu, wie meine Haare knisternd über meine Schulter wanderten und sich eine von der Sonne gebleichte Locke um die Muschel des Hörers schmiegte. Von meinem Nacken glitt das Band, das eben von der Macht meines Schopfes gesprengt worden war, lautlos zu Boden.
    Ich wagte nicht, mich zu rühren. Es war nicht der mysteriöse Anrufer, der mich irritierte, sondern das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Hier war jemand im Haus. Ich war nicht allein.
    »Hey,

Weitere Kostenlose Bücher