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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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Wange, zu kurz, um dieser Geste eine große Bedeutung beizumessen, aber doch zärtlicher, als es unter Freunden üblich war. Dann drehte er sich um und lief in ausgeruhten, jugendlich-lässigen Schritten die Straße hinab.
    Mit dem Schlüssel in der Hand setzte ich mich auf die Gartenstufen. Noch wollte ich nicht zu seinem Haus, es war zu früh. Ich wollte es erst dann erkunden, wenn er weg war, wenn ich sicher sein konnte, dass er mein Stöbern weder wittern noch bemerken konnte. Denn ich wollte nach Herzenslust darin stöbern. Ich kannte bisher nur den Salon und die Bibliothek und war geradezu versessen darauf, sein Schlafzimmer zu sehen. Und dann wollte ich mich in sein Bett legen und darin träumen. Immerhin, es gab etwas, worauf ich mich freuen konnte, während er weg war.
    Doch der Anruf wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Selbst ein Glas Rotwein konnte mich nicht davon ablenken. Ich drückte die Fäuste gegen meine Schläfen, um jene Weichheit zurückzuerlangen, die mich all die Tage zuvor besänftigt hatte, zart wie ein Wiegenlied. Ich hatte nicht gewusst, wie beglückend es sein konnte, nichts zu denken. So musste sich ein Meditationskünstler fühlen, wenn er das geistige Nirwana fast erreicht hatte. Er reflektierte gerade noch, dass er nichts mehr dachte, bevor alles miteinander verschwamm.
    Aber jetzt, jetzt konnte ich dabei zusehen, wie das Zeitfenster kleiner wurde. Die Wände schoben sich zusammen, die Luke wurde schmaler, das Licht war nur noch ein schmaler Streifen. Ich musste mich beeilen und dazu gehörte, den Anrufer zu vergessen. Also noch ein Glas Rotwein und die Beine auf die Brüstung, Blick in die Silberpappeln und das Schwarz des Nachthimmels.
    »Thira«, ertönte es all meinen Entspannungsversuchen zum Trotze wie ein Echo in meinen Ohren. »Thira. Schnell.« Thira – ein Name? Ein Ort? Ein Geheimnis? Vielleicht sollte ich den Anrufer gar nicht zu verdrängen versuchen. Vielleicht hatte er ja mit alldem zu tun. Wenn ich nur gewusst hätte, warum er mir so bekannt vorgekommen war … Doch ich konnte mich nicht entsinnen, jemals eine solche Stimme gehört zu haben, und ich konnte mir auch keinen Menschen dazu ausmalen. Mein früheres Leben war nur noch ein blasser Schimmer in meinem Gedächtnis, nicht weiter der Rede wert, denn ich hatte mich nur gemartert mit meiner Angst und meinen ewigen Grübeleien. Es war alles nur die Vorstufe gewesen zu dem, was jetzt kam.
    Aber was, wenn er dazugehörte? Was, wenn er darüber entschied, ob ich aufgenommen werden konnte? Was, wenn er mich prüfte? (Oder sie? Es konnte genauso gut eine Sie gewesen sein.)
    Mein Zeitfenster schloss sich, Angelo war einige Tage weg, bald würde er in die Südsee reisen, die Sanduhr lief ab – ich musste dem Anruf Bedeutung schenken. Ich hatte gar keine andere Wahl.
    Stöhnend richtete ich mich auf. Was also bedeutete Thira? Wurde es mit h oder ohne h geschrieben?
    Thira, das konnte ein italienischer Ort sein, vielleicht eines der vielen verlassenen Dörfer. Ich klatschte die flache Hand gegen meine Stirn, als ich merkte, dass ich kaum mehr in der Lage war, klare Gedanken zu fassen. Immer wieder zerstreuten sie sich. Ich musste bei mir bleiben. Wie konnte ich herausfinden, wo Thira lag?
    Erst nach minutenlangem Überlegen kam ich auf die Idee, die Karte zur Hand zu nehmen, ja, die Straßenkarte. Herrgott, wie konnte ich nur so lange brauchen, um darauf zu kommen? Ich hätte sofort Angelo fragen sollen, dann wäre alles einfacher gewesen. Nun war ich auf mich selbst angewiesen.
    Fahrig schüttelte ich die zusammengefaltete Karte, bis sie sich öffnete und dabei beinahe zerriss. Ich breitete sie auf dem Terrassenboden aus, stellte zwei Kerzen daneben und begann zu suchen. Es fiel mir schwer, die Ortsnamen zu entziffern. Es lag nicht an der Schärfe meiner Augen, sondern an dem Schwindelgefühl, das sich hinter ihnen ausbreitete, sobald ich zu lesen versuchte. Ich überforderte sie damit. Es standen zu viele Namen auf der Karte – und gleichzeitig zu wenig. Verlassene, einsame Bergdörfer waren jedoch gar nicht mehr eingezeichnet, höchstens das Ruinensymbol. Thira konnte überall sein. Ich wollte die Karte wieder zusammenfalten und krumpelte sie fluchend in die Ecke, als es nicht klappte. Geholfen hatte sie mir sowieso nicht.
    Sekunden später schreckte ich hoch, weil mir der Schlüssel aus den Händen gerutscht und auf den Boden gefallen war, und zerrte mir gleichzeitig den Nacken. Ich musste eingenickt sein. Ich

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