Dornenkuss - Roman
keine Billigläden, keine Bausünden weit und breit, alles hatte Stil und Flair; es war unmöglich, sich vernünftig zu entscheiden, in welches Lokal man sich setzen sollte, denn jedes barg seinen eigenen Charme. Das Essen war dabei nebensächlich, das Schauen und Genießen die Grundlage allen Seins. Nicht einmal die unübersehbare Tatsache, dass die Küste an jeder Stelle des Ortes steil abfiel, konnte mich in Panik versetzen. Nein, es beruhigte mich sogar, mich so hoch über dem Meeresspiegel zu befinden.
Diese Insel war durch den Ausbruch eines gewaltigen Vulkans entstanden, ich befand mich auf seinem Rand und die See hatte seinen Krater gefüllt, doch wann immer ich auf das Meer sah – so finster es sich auch unter mir ausbreitete –, schlug mein Herz langsamer und zufriedener. Das hier war ein Ort, der in den Menschen die Sehnsucht wecken konnte, alles stehen und liegen zu lassen, was vorher wichtig war, und zu bleiben.
In meinen Hosentaschen fand ich genügend Geld, dass ich in jedem der Geschäfte etwas für mich hätte kaufen können, doch ich setzte mich nur in eines der Restaurants und bestellte mir einen Teller Nudeln. Ich fand es schändlich, jetzt etwas zu essen, aber ich hatte Hunger und mein Bauch verlangte mit jener Rücksichtslosigkeit nach Nahrung, mit der er mich früher oft aus der Fassung gebracht hatte. Ich hatte zum wilden Tier werden können, wenn ich Hunger verspürte und nichts zu essen in der Nähe war. In den vergangenen Wochen – wie viele Wochen, welchen Monat hatten wir, welche Jahreszeit? Ich wusste es nicht! – war er nebensächlich geworden. Hatte ich überhaupt noch gegessen? Abgemagert war ich nicht; sehr schlank und trainiert, vielleicht zu schlank, aber nicht dürr.
Trotzdem machte ich sicherheitshalber Pausen zwischen den Bissen, in denen sich tiefe, schwere Seufzer aus mir befreiten, gegen die ich nichts ausrichten konnte. Meine Gedanken und Fragen formten diese Seufzer, ich schaffte es nicht, ihnen Einhalt zu gebieten, und jetzt, wo ich saß und nicht lief, zogen sie neue Fragen nach sich, vor denen es kein Entrinnen gab.
Ich hatte Angelo vertraut, ich hatte keinen Anlass gefunden, es nicht zu tun; keines seiner Worte hatte das Gegenteil in mir auslösen können. Alles, was er getan und gesagt hatte, hatte Hand und Fuß gehabt. Jeder logisch denkende Mensch hätte es nachvollziehen können. Oder war ich zu dumm gewesen, zu naiv und gutgläubig? Vielleicht war es so, vielleicht war ich nur eine gute Schülerin, eine Streberin, doch in den großen Aufgaben des Lebens versagte ich.
Ich durchforstete meinen Kopf nach Anhaltspunkten, die mich hätten warnen können, und fand keine – aber wenn ich keine fand, bedeutete das nicht, dass ich auch Colin misstrauen musste? Konnte es nicht sein, dass er ebenso hinter meinem Vater her gewesen war wie Angelo? War er dabei gewesen, als es geschah, eine von den starren Gestalten auf den Felsen, Gestalten ohne Gesichter? Warum hatten sie keine Gesichter gehabt? Sämtliche Mahre, die ich bisher gesehen hatte, hatten Gesichter gehabt, eindrucksvolle sogar. Ja, es konnte sein, dass Morpheus in seine Erinnerung eingegriffen hatte und die Gesichter für mich verschwinden ließ, damit ich nicht sehen konnte, dass Colin einer von ihnen gewesen war. Er hatte mich schließlich schonen wollen … Auch Tessas Gesicht hatte ich nicht sehen können, als ich im vergangenen Sommer in Colins Erinnerungen gewandelt war. Mahre waren dazu in der Lage, ihre inneren Bilder zu retuschieren.
Aber konnte Colin das fertigbringen – tatenlos zusehen, während mein Vater umgebracht wurde? Konnte er das?
Und warum in aller Welt sehnte sich immer noch etwas in mir nach Angelo, warum tat es weh, wenn ich mir vorzustellen versuchte, wie das Leben ohne ihn sein würde, ohne den Luxus, ihm bei dem zusehen zu können, was er so tat, und wenn es nur das Spielen auf dem Klavier war, etwas, von dem ich eigentlich gar nichts verstand? Warum bekam ich Angst, wenn ich daran dachte, ihn niemals wiedersehen zu können?
Ja, was Angelo betraf, konnte ich in die Zukunft denken. Einen faulen Zauber hatte Morpheus mir da aufgebürdet. Hätte er diesen Punkt nicht auch berücksichtigen können? Es war pervers, dass ich immer noch zu ihm wollte und alles wiedergutmachen. Mich entschuldigen! Ich durfte mich nicht entschuldigen, wofür denn?
Ich wusste doch ganz genau, was er getan hatte, ich durfte ihm keine Sekunde meiner Nähe schenken, das wusste ich!
Während meine
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