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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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nicht wollen, und auf jene zu hoffen, die sie freiwillig annehmen und sogar darum bitten. Denn sie werden dankbar sein und alles tun, was es braucht, um die Ewigkeit angenehm und satt zu gestalten.«
    Ja. So wie ich es beinahe getan hätte. Ich hatte mir die Ewigkeit nur gemeinsam mit Angelo vorstellen können, nicht ohne ihn. Sie war an ihn geknüpft gewesen, es gab keine Unendlichkeit, in der ich nicht an seiner Seite war. Ich hatte geglaubt, die Richtige gewesen zu sein, die einzig Richtige. Etwas Außergewöhnliches.
    Ich konnte gerade wieder einigermaßen stabil und aus eigener Kraft stehen, als erneut die Bilder durch meinen Kopf rasten. Ich musste mir den Tod meines eigenen Vaters ansehen, immer und immer wieder. Wie sollte ich jemals wieder lachen können?
    Ich fragte mich, warum Morpheus so ruhig geblieben war, als er die Hinrichtung beobachtet hatte. Kein inneres Aufschreien, keine Aufregung, keine Trauer. Und trotzdem war ein Elend in ihm gewesen, das bitterer und gequälter war, als das größte Erschrecken es je sein konnte – das Elend eines über zweitausend Jahre andauernden Lebens. Zweitausend Jahre … wieso hatte er dann nichts dagegen getan, sondern es lediglich in seine Hände genommen? Papas Herz hatte noch geschlagen! Er hätte ihn retten müssen!
    »Du Feigling!«, wisperte ich. »Warum hast du ihn sterben lassen? Warum kuschst du vor Angelo? Du hast nur zugesehen …«
    »Er hatte die Kapsel bereits genommen. Wir wussten beide, dass dieser Tag kommen würde.«
    »Welche Kapsel?« Mir lief ein heißer, kränklicher Schauer über den Rücken.
    »Gift. Gift und ein starkes beruhigendes Medikament. Allein sein Kopf blieb klar, doch er hatte keine Schmerzen und nahm sie, bevor Angelo sein Leben beenden konnte. Angelo glaubt nur, dass er selbst ihn getötet hat. Ein kleiner Triumph, immerhin.«
    »Er hatte Gift …«
    »Er war Mediziner, mein Kind. Es wäre dumm, sogar leichtfertig gewesen, nicht auf diese Weise vorzusorgen. Und er war müde, sehr müde. Seitdem du auf der Welt warst, hatte er nicht mehr geschlafen – für einen Mahr eine Selbstverständlichkeit, aber für ein Halbblut, das im Herzen Mensch geblieben ist, eine Folter, die ihresgleichen erst suchen muss.«
    »Aber er wollte doch noch so vieles tun, so vieles bewirken«, erwiderte ich flehentlich. Er war zu früh gegangen!
    »Das hätte er auch versucht, wenn das Netz sich nicht so schnell zugezogen hätte. Er hat es immer versucht. Es war zu seiner Lebensaufgabe geworden.«
    Morpheus nahm eine Hand von meiner Schulter. Ja, ich konnte stehen, mein Organismus hatte sich gefangen und begann seine Arbeit wieder aufzunehmen. Trotzdem ließ Morpheus seine andere Hand bei mir und ich war froh, dass er es tat. Ich wollte noch nicht auf seine Geborgenheit verzichten.
    »Hättest du nicht trotzdem irgendetwas dagegen tun können?«
    »Ich kam zu spät. Ich wusste nicht, dass Angelo es war, der alle Macht an sich gerissen hatte und es tun wollte, obwohl es eine friedliche Abmachung zwischen ihm und deinem Vater gab. Wir können einander nicht in die Köpfe sehen. Wir können es nur, während wir rauben, und wenn wir uns dabei erwischen, töten wir uns gegenseitig. Bemerken wir es nicht oder zu spät, sind wir danach zutiefst erschöpft, vor allem wenn wir vorher sehr hungrig waren.« Deshalb also hatte Morpheus sich die Formel nicht sofort zurückholen können … Colin war schneller als er gewesen. »Dein Vater hatte sein Gift bereits genommen. Ich kann Träume rauben und Erinnerungen stehlen, ich kann Menschen Schlaf geben und sie sogar von schlechten Gedanken befreien. Doch ich kann nicht ihr Sterben verhindern, wenn es bereits begonnen und den Punkt erreicht hat, an dem das Bewusstsein schwindet. Den Göttern sei gedankt, dass ich das nicht kann. Es wäre ein Fluch.«
    Ein klägliches Wimmern löste sich aus meiner Brust, als ich an meine Träume dachte, die mich seit dem Winter mit sturer Regelmäßigkeit heimgesucht hatten, Träume, in denen ich Papa fand und wir ihn zurückholten, zurück in unsere Familie, doch in jedem dieser Träume konnte ich mich nicht darüber freuen, weil ich genau spürte, dass er das gar nicht wollte. Er war so müde. Er schaute mich an und seine Augen sagten mir nur eines: Lass mich schlafen. Lass mich bitte wieder schlafen.
    »Wenn du niemanden zum Leben erwecken kannst, dann tu wenigstens das, wozu du fähig bist, besser als jeder Mensch: Töte! Töte Angelo!«, rief ich mit klirrender Stimme.

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