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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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Brust schlagen müssen wie ein Klageweib, denn ich ahnte, dass dies der einzige Weg war, mit solch großem Schmerz umzugehen, anstatt sich still und stumm in ihm zu vergraben und geduldig zu warten, bis er vorüberging.
    Doch nichts dergleichen geschah. Ich begriff sehr wohl, was passiert war, und zweifelte keine Sekunde an der Wahrheit dessen, was ich erlebt hatte. Doch ich war nicht imstande, mir die Konsequenzen auszumalen. Ich konnte nur bis in die nächsten Stunden denken, nicht an das Morgen oder Übermorgen, nicht an all die Wochen und Monate, die ich ohne ihn leben musste, mit der schrecklichen Gewissheit, seinem Mörder meine ganze Zuneigung geschenkt und den Rest der Welt vergessen zu haben.
    Auch ihn hatte ich vergessen. Meinen eigenen Vater. Mit einer solchen Schuld konnte niemand leben.
    Doch es gab diese Konsequenzen in meinem Kopf noch nicht; wann immer ich versuchte, sie mir vorzustellen, zersprangen meine Gedanken in Abertausend winzige Scherben und waren nicht mehr lesbar.
    War es also das, was den Tod eines geliebten Menschen unerträglich machte – die Zukunft? Die Angst davor, ohne ihn zu sein, Tag für Tag, Stunde für Stunde? Es war gar nicht die Trauer selbst, sondern die Angst vor ihr, die Angst vor dem niemals endenden Verlust?
    Doch für mich waren im Moment andere Fragen wichtiger; hinzu kam der blanke Hass, der sich ruckartig durch meinen Bauch wühlte und das Bedürfnis in mir weckte, ihn in Worte zu fassen und sie meinem Verräter entgegenzuschleudern wie Felsbrocken, die ihn töten würden oder wenigstens begreifen ließen, was er getan hatte. Schon begann ich meine Vorwürfe zu formulieren und zu begründen, Argumente hatte ich wie Sand am Meer, doch ich wusste genauso gut, dass keines von ihnen auch nur die geringste Wirkung zeigen würde. Für ihn wäre es nur das weinerliche, nutzlose Gewäsch eines kleinen Mädchens.
    Er hatte mich betrogen und belogen, von Beginn an, er hatte mit mir gespielt, ohne Rückgrat und Gewissen. Er war sogar mit mir an den Ort der Hinrichtung gefahren, wo das Blut meines Vaters noch die Felsen benetzte, und hatte mir erzählt, wie schön die Welt doch sei, und sich selbst mit Sagen und Legenden geschmeichelt.
    Oder war ihm gar nicht bewusst gewesen, was er da getan hatte? Hatte er keinen Bezug mehr zur Elternliebe? Auf einmal erinnerte ich mich daran, wie gleichgültig er von seinen Eltern gesprochen hatte; es war ihm nur darum gegangen, seinen eigenen Weg zu gehen, ewig zu leben, und offenbar war es für ihn ein Leichtes gewesen, sie im Glauben zu lassen, er sei im Krieg gefallen.
    Oh, und dazu die pazifistischen Reden, die er geschwungen hatte … Er habe sich nicht durch den Dreck winden und wahllos Menschen töten wollen, nur weil es ihm ein Fremder befahl … Nein, ich durfte nicht weiter darüber nachdenken, mich nicht in Einzelheiten verlieren, jede von ihnen ein mit ätzender Flüssigkeit gefülltes Geschoss, das nicht ihm galt, sondern mir selbst, weil ich Tag und Nacht nichts anderes mehr getan hatte, als von ihm zu träumen und ihm meine Fantasien und Wünsche zu widmen.
    »Warum? Warum hat er das gemacht? Papa hat ihm doch gar nichts getan, wieso hat er ihn getötet?«
    »Weil er niemanden zwischen den Welten duldet. Er ist ein Diktator, der einzige und erste, den wir jemals hatten. Zumindest hält er sich dafür. Dein Vater sträubte sich, auf unsere Seite überzutreten, er sträubte sich selbst unter größtem Druck. Er wollte das Menschliche in sich bewahren. Er war der Letzte seiner Art. Alle anderen hat Angelo bereits hingerichtet oder dazu gebracht, die Metamorphose vollenden zu lassen. Viele waren es ohnehin nicht mehr.«
    Der Letzte seiner Art … Es gab keine Halbblüter mehr. Papa war das letzte Halbblut gewesen. Die Liste war überflüssig geworden, doch gegeben hatte es sie, auch in diesem Punkt: Lügen, nichts als Lügen. Von wegen, Papa sei freiwillig übergetreten …
    Wer nicht ging, wurde hingerichtet.
    »Er hätte ihn doch zur Metamorphose zwingen können, warum hat er das nicht getan?« Ich wunderte mich darüber, wie fest meine Stimme klang und dass ich meine Fragen zu Ende formulieren konnte. Es musste etwas mit dem zu tun haben, was Morpheus mit mir gemacht hatte, um es mich besser ertragen lassen zu können.
    »Er möchte nur willfährige Diener um sich herum. Deinen Vater zu zwingen, wäre ein zu hohes Risiko gewesen. Die Metamorphose alleine hat ihre Macht verloren. Es ist einfacher, die zu töten, die sie

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