Dornenkuss - Roman
»Töte ihn! Beende diese Schreckensherrschaft!«
»Das wäre zu wenig«, erwiderte Morpheus leise. »Und es würde nichts ändern. Der Nächste giert schon nach seinem Posten. Der Tod ist zu wenig, mein Kind.«
Ja. Ja, er hatte recht. Der Tod allein war zu wenig. Er genügte nicht. Es musste etwas anderes geschehen.
»Ich kapier es trotzdem noch nicht – was war so gefährlich an meinem Vater? Er hat doch niemanden gezwungen, mit ihm zu kooperieren, das konnte er gar nicht! Warum konnten sie ihn nicht so lassen, wie er war? Nur weil er zwischen den Welten bleiben wollte, musste er sterben?«
»Angelo wollte ungestört jagen, bis in alle Ewigkeit. Niemand sollte ihm dabei im Wege stehen oder infrage stellen, was er tat. Kein Mensch sollte je von ihm und den anderen erfahren. Dein Vater war ihm dabei ein Dorn im Auge, denn er hatte vor, diese unsichtbare Linie zu überschreiten. Es gab viele Gründe für Angelo, ihn zu töten, und einige von ihnen wirst du womöglich niemals herausfinden oder verstehen. Für den Moment ist das auch nicht wichtig. Es gibt noch etwas für dich zu erledigen, heute Nacht und auf dieser Insel.«
Ich sah erstaunt zu ihm hinunter. »Heute Nacht?« Ich konnte mir nicht vorstellen, was das sein sollte.
»Ja.« Morpheus nickte und nahm seine Hand von meiner Schulter. Ich taumelte einen Augenblick lang, dann fand ich meine alte Stabilität wieder und streckte meinen Rücken, bis meine Wirbel gedämpft knackten. »Heute Nacht. Geh in die Gassen und mische dich unter Wesen, die fühlen. Du wirst wissen, was du zu tun hast.«
»Ich werde es wissen? Aber …«
Doch Morpheus hatte sich schon umgewandt und von mir entfernt, ein kleiner, sehniger Mann, der in einer Gruppe Touristen untertauchte, als hätten wir niemals miteinander gesprochen.
Ich wartete darauf, dass ich zusammenbrechen würde, weinend und zitternd, vielleicht musste ich mich auch übergeben oder würde mein Bewusstsein verlieren, damit ich nicht mehr über das nachdenken konnte, was geschehen war. Doch noch immer kehrten meine Gedanken von alleine um, sobald sie an den Punkt gelangten, wo ich mich fragen musste, wie ich von nun an existieren sollte.
Dass sie von allein stoppten, hielt meine Überlegungen allerdings nicht davon ab, sich unablässig neu zu bilden, sodass ich mich bald nach einem Stück Papier und einem Stift sehnte, um meine Fragen aufzuschreiben, obwohl ich mich vor den Antworten fürchtete.
Eine Frage war bald die lauteste von allen: Warum hatte Angelo es nicht dabei belassen können, meinen Vater zu töten? Für mich machte es noch immer kaum einen Unterschied, dass mein Vater den Zeitpunkt selbst gesetzt hatte, denn es war nicht von ihm entschieden worden, dass er sterben sollte. Warum musste Angelo sich mit mir anfreunden und mich an seine Seite ziehen? Pure Neugierde? Spieltrieb? Oder hatte er etwa wirklich etwas für mich empfunden? Allein die Vorstellung erfüllte mich mit Ekel, bis ich glaubte, würgen zu müssen. Ich wollte mich selbst schlagen, weil ein Teil von mir sich trotz dieses Ekels immer noch nach ihm sehnte, ihn als den Richtigen ansah, den Richtigen für mich, bei ihm sein wollte, seine Selbstgefälligkeit vermisste.
Doch Morpheus hatte gesagt, dass es andere Dinge zu tun gebe, und obwohl mich sein allzu nebulöser Auftrag überforderte, stand er unmittelbar bevor und ich sollte mich damit auseinandersetzen, vielleicht auch, weil ich hoffte, damit meinen selbstzerstörerischen Grübeleien für eine Weile zu entfliehen.
Heute Nacht, hatte Morpheus gesagt. Nicht heute Abend. Die Sonne war gerade erst untergegangen und die Dunkelheit barg eine Transparenz und Klarheit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Mir blieb noch ein wenig Zeit bis zur Nacht, also tat ich das, was er mir aufgetragen hatte, und ich tat es ohne Eile: Ich mischte mich unter die Menschen.
Zum ersten Mal, seit ich auf die Insel gelangt war, ließ ich den Zauber von Oia auf mich wirken. Ich war unfähig, mich zu freuen oder zu trauern, doch ich war empfänglich für Schönheit und Ästhetik und von beidem gab es hier im Überfluss. Schmuckboutiquen und Kleinkunstläden reihten sich zwischen pittoresken Cafés und Restaurants, alle unter freiem Himmel und mit Blick auf das Meer. Die bunten Fassaden der Häuser leuchteten auch im Dämmergrau, mal von modernen Spots angestrahlt, mal von weichem gelbem Kerzenlicht oder dem knisternden Flackern der Fackeln erhellt, mit denen einige der Cafés gesäumt wurden. Kein Kitsch,
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