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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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sich das vorstellte, wäre mir vermutlich dasselbe widerfahren wie Papa. Hingerichtet am Capo Vaticano. Ich versuchte, den galligen Geschmack in meiner Kehle hinunterzuzwingen. Hustend und keuchend schluckte ich.
    »Warum hast du mich ausgerechnet jetzt zu dir gerufen? Bin ich hier denn überhaupt sicher?«
    »So sicher wie in Mutters Schoß. Es ist meine Insel, mein alleiniges Revier. Kein anderer wagt es, hier zu jagen. Und doch wurde ich von einem Mahr beauftragt, dich zu rufen. Ein junger, stolzer Mann mit großem Todesmut und ebenso großer Todessehnsucht hat mich darum gebeten, weil seine eigene Macht erschöpft war. Wir haben gerade über ihn gesprochen …«
    »Colin«, schluchzte ich auf. Morpheus war der Mahr, dem er die Formel geraubt hatte, und obwohl er nicht wissen konnte, wie er ihm gesinnt war und Morpheus ihm beim ersten Versuch beinahe den Schädel zertrümmert hatte, war er erneut zu ihm gegangen, in sein Revier, um ihn um Hilfe zu bitten. Das war nicht todesmutig, das war gehirnamputiert. »Wie konnte er das nur tun? Er hätte dabei draufgehen können.«
    »Die Hoffnung hat ihm offensichtlich Flügel verliehen.« Morpheus’ Augen schillerten in gleißender Helligkeit. »Er war nicht das erste Mal bei mir. Er kam kurz nach Tessas missglückter Metamorphose, auf der Flucht, und hatte unzählige Fragen. Als ich ihm nicht alle Antworten geben wollte, suchte er nach anderen Wegen. Ihr seid euch nicht unähnlich, du und er.«
    Er hielt inne, denn ich begann zu weinen. Mein Schluchzen hallte in der kleinen steinigen Höhle wie das Klagen eines sterbenden Vogels, während ich mir vorzustellen versuchte, wie Colin bei Morpheus gesessen und ihn mit Fragen gelöchert hatte. Er war hier gewesen, in diesem kleinen Raum. Sein Blut hatte diese Felsen benetzt. Meine Tränen fielen auf den Steinboden und hinterließen dünne, warme Spuren. Tränen, die er mir von den Wangen gepflückt hatte, mit seiner Zunge, bevor sie nur noch ihm galten und ich ihn verraten hatte.
    Sobald ich mich ein wenig gefangen hatte, sprach Morpheus weiter. »Ich habe ihm seine Fragen beantwortet, so gut ich konnte. Doch was ich in mir trage, ist uraltes Wissen, für das es keine Beweise gibt. Mythen, Legenden, Göttergeschichten. Nicht mehr und nicht weniger. Aber seitdem er wiederkam und mich beraubt hat, weiß ich, dass Colin die gleiche Sehnsucht treibt wie mich. Er möchte sterben. Niemand sollte ihn dafür anklagen, denn es ist das einzig Menschliche, was ihm jemals widerfahren kann. Wie sollte ich ihn verurteilen, wo wir diesen einen Wunsch teilen? Unser Leben und unser Tod liegt in deiner Hand, mein Kind.«
    »Ich weiß die Formel doch auch nicht mehr …« Mit dem Handrücken wischte ich die Tränen von meiner Wange. »Ich erinnere mich nicht, ehrlich. Sie ist fort.«
    »Weil sie verdrängt wird. Das ist das, was ich dir erlaubt habe. Ich habe dir erlaubt, all das zu verdrängen, was dich zu sehr schmerzt und belastet. Es ist wichtig, diesen Zustand beizubehalten, um handeln zu können. Aber du wirst die Formel wiederfinden.«
    Im Moment war ich nicht erpicht darauf, sie wiederzufinden. Mir genügten mein Zorn und der Hass auf mich selbst – und die Angst vor dem, was geschehen würde. Denn es musste etwas geschehen. Die Welt konnte so nicht bleiben. Mit der blinden Verzweiflung einer Ertrinkenden krallte ich mich an die letzten verbliebenen Fragen, als könne ich damit die Katastrophe verhindern.
    »Und Grischa? Woher wusstest du, dass er mit alldem zu tun hat?«
    Morpheus ließ meine rechte Hand los und berührte zärtlich mein Haar. »Ich jage nur noch selten, ich lebe in Askese. Doch wenn ich jage, raube ich bei Menschen, die hierherkommen, um ihrem Leben zu entfliehen. Sie finden auf dieser Insel genügend Schönes, um sich anschließend zu trösten.« Wenn er das sagte, klang es anders als bei Angelo. Es klang aufrichtig bedauernd. Er bedauerte es, jagen zu müssen. Wie Colin. »Grischa kommt immer wieder hierher. Er hat sich in diese Insel verliebt. Sie ist sein Seelenheil geworden. Und jedes Mal trägt er einen Brief bei sich, zwölf Seiten, mit Tränenflecken in der dunkelblauen Tinte, zerknittert und zerlesen. Er versteht die eng beschriebenen Zeilen nicht, aber er liest sie immer wieder, ohne zu begreifen, warum. Es gelingt ihm nicht, den Brief ins Meer zu werfen, wie er es schon oft vorhatte.«
    »Mein Brief. Es ist mein Brief!« Ich lachte unter Tränen. Grischa trug meinen Brief bei sich … Ich bildete mir

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