Dornenkuss - Roman
der Höhle brach. »Was hat ihn gelockt?«
Morpheus wartete, bis ich mich vor ihn kniete und ihn ansah. Dann ergriff er meine Hände, um sie in seinen Schoß zu ziehen und festzuhalten, als rechne er damit, dass ich davonstürzen würde, sobald ich es erfuhr. Das durfte ich nicht. Es hatte auch keinerlei Sinn. Man konnte vor sich selbst nicht fliehen.
»Hast du dir nie überlegt, wie wir entstanden sind?«
»Doch«, erwiderte ich prompt. »Aber das ist so ähnlich, wie sich zu überlegen, wo das Universum endet. Daran habe ich auch keinen Spaß. Adam und Eva werden es wohl nicht gewesen sein, oder?« Meine Ironie war unangebracht, aber ich wollte endlich wissen, was es mit mir auf sich hatte, und keine ungebetene Schulstunde absolvieren.
»Menschen werden zu Mahren verwandelt, das weiß ich«, ratterte ich trotzdem artig mein knappes Wissen herunter, als Morpheus sein Schweigen ausdehnte. »Ein Mahr fällt einen Menschen an und leitet die Metamorphose ein, um einen neuen Mahr zu schaffen, oder aber er ist so ausgehungert, dass es versehentlich geschieht. Richtig? Gut, richtig, ich sehe schon. Aber dann muss es irgendwann einen ersten Mahr gegeben haben. Den Urmahr sozusagen. Er hat mit dem ganzen Blödsinn angefangen.«
Wieder spiegelte sich das Meer in Morpheus’ Augen, obwohl die Nacht stockfinster geworden war. Eigentlich hätte ich sie gar nicht mehr sehen und erst recht keine Farbe in ihnen erkennen dürfen. Sein tiefer Blick vervielfachte meine Angst.
»Es gibt Archetypen. Einer von ihnen war der Erste. Es gab sie damals und es gibt sie heute. Es sind wenige. Sie tragen es in sich. Es gibt zwei Varianten dieser Archetypen. Die einen haben zu wenig Gefühle, sind innerlich ausgedörrt und entscheiden sich irgendwann, Gefühle zu rauben, um wieder empfinden und erleben zu können.«
»Und die anderen?«, flüsterte ich.
»Die anderen haben zu viele Gefühle – Wut, Zorn, Neid, Angst, Sehnsucht, Mitleid, Wehmut, Liebe, Trauer – und halten sie nicht mehr aus. Deshalb beschließen sie, sie zu vergessen, sich selbst auszuhungern und nur noch die Gefühle anderer Menschen einzusaugen, wohldosiert und kalkuliert. Für beide Archetypen ist es lediglich eine Frage der persönlichen Entscheidung, Mensch zu bleiben oder Mahr zu werden. Es genügt oft, Nähe zu einem Mahr zu suchen, sich auf das andere Leben einzulassen und gegen sich selbst zu entscheiden. – Was glaubst du, mein Kind? Aus welchem Archetyp rühren die grausamsten, gierigsten und mächtigsten aller Mahre?«
Ich musste nicht lange überlegen. »Aus jenen Menschen, die zu viele Gefühle haben.«
Zu viele Gefühle, nicht zu wenig. Wie ich. Weil sie die Kontrolle über sich verloren, wenn sie raubten, da irgendetwas in ihnen sich die Intensität der eigenen Emotionen zurückwünschte, obwohl sie ihnen verhasst gewesen war, und die Träume und Empfindungen anderer Wesen selbst nach einem noch so brutalen Raub nie das ersetzen konnten, was einst aus ihrer eigenen Seele entstanden war. Sie waren niemals satt, niemals zufrieden, immer getrieben, auf ewig.
»Es bedarf nur einer Entscheidung?«
»Für dich, ja.« Morpheus bewegte seine Lippen nicht mehr; unsere Körper hatten wieder ihren Einklang gefunden, sodass er nicht sprechen musste, damit ich ihn hören konnte. Vielleicht lag es gar nicht an ihm, dass das so war. Vielleicht lag es an mir. »Eine einzige klare Entscheidung, die vollkommene Hingabe an einen Mahr, der dich auf seine Seite ziehen möchte, dein Ja zur Unsterblichkeit und der Weg zurück ist verschlossen. Wenn die Menschlichkeit einmal verloren ist, ist es unmöglich, sie wiederzuerlangen.«
Bei mir war es beinahe so weit gekommen. Ich hatte bereits vergessen, dass ich Vater und Mutter hatte, ich hatte meine Freunde vergessen, ich hatte Colin vergessen. Oder war es schon so weit gewesen? War es bereits geschehen?
»Gibt es für mich noch eine Umkehr?« Nun war ich froh, dass Morpheus meine Hände in seinen hielt und ich ihn bei mir fühlte. »Kann ich mich überhaupt noch entscheiden?«
»Du hast dich entschieden, indem du hierhergekommen bist. Und du hast dich vorher entschieden, immer wieder.«
Ja, das hatte ich. Wie Wolken zogen die Erinnerungen an meine Entscheidungen vorüber. Ich hatte mich entschieden, zu Colin zu stehen, als mein Vater mich unter Druck gesetzt hatte. Ich hatte mich entschieden, unser aller Leben und meine Liebe zu riskieren, indem ich Colin in dem Kampf gegen François antreten ließ. Ich hatte mich
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