Dornenkuss - Roman
entschieden, nach Trischen zurückzukehren und mich meinen Erinnerungen zu stellen. Ich hatte mich entschieden, Tessa das letzte Antibiotikum zu verabreichen, obwohl ich selbst möglicherweise sterbenskrank war. Aber meine Entscheidung hierherzukommen war dem Gedanken entsprungen, dass der Anruf etwas mit der Metamorphose zu tun hatte. Betreten senkte ich meine Lider. Ich hatte mich in diesem Augenblick nicht einmal entsinnen können, dass Morpheus mich schon zwei Mal angerufen hatte, immer nachts, und ich seine Stimme eigentlich kannte. Und doch – als Angelo plötzlich hinter mir gestanden hatte, war mir unwohl geworden, ohne dass ich den Grund dafür hätte erraten können. Die Schlange aber hatte mein Unbehagen gespürt. Sie hatte mich dazu gebracht, ihn nicht länger im Haus zu dulden. Und ich wiederum hatte auf die Schlange gehört. Keine Gedanken mehr, nur noch schwache, unreflektierte Intuition.
»Es kann sein, dass er von deinen Träumen gekostet hat in den vergangenen Tagen und Wochen«, durchdrangen Morpheus’ Überlegungen mein eingeschüchtertes Schweigen.
»Nein, das hat er nicht«, entgegnete ich entschieden. Ich hatte nicht mehr geschlafen, obwohl ich es nicht beschlossen hatte, es war geschehen, ohne mein Zutun. Er hatte es gar nicht tun können. Auch tagsüber und während unserer nächtlichen Streifzüge war es nicht geschehen. Immerhin, Colins Erinnerungsraub hatte seine guten Seiten: Durch dieses Erlebnis wusste ich, wie es sich anfühlte, wenn es begann. Es verlangte nach einer Nähe, die Angelo und ich nie geteilt hatten, nach der ich mich aber ständig gesehnt hatte. Und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ihn diese Sehnsucht nur noch angeheizt. Doch beeinflusst hatte er mich zweifellos in irgendeiner Weise. Das konnten Mahre, selbst wenn man wach war.
Angewidert presste ich die Lippen zusammen, angewidert nicht nur von ihm, sondern vor allem von mir selbst. Ich war ein Archetyp, eine Auserwählte. Es hätte kein Blut fließen müssen, um es zu vollziehen. Kein Schmerz wäre notwendig gewesen. Nur mein Wille, aus dem Diesseits zu scheiden. Ohne dass Morpheus es angedeutet oder gar ausgesprochen hatte, wusste ich, was er mir hatte sagen wollen: Es bedurfte einer Entscheidung und Hingabe, ja, körperlicher Nähe. Ich hätte mit Angelo schlafen müssen. Darauf hatte er gewartet. Dass ich darum bettelte. Und dann wäre er dabei in meine Seele eingedrungen und hätte es vollendet. Ich hätte es nicht einmal gemerkt.
»Was ist mit Colin?«, lenkte ich mich von meinem jähen Selbsthass ab. »Er war nie ein Mensch …«
»Er war nie ein Mensch. Er sollte nie ein Mensch sein können. Genau darin offenbaren sich seine Zähigkeit und seine Stärke. Er hatte keine Möglichkeit, sich zu entscheiden, und doch wehrt er sich erbittert gegen sein Schicksal, jeden Tag aufs Neue. Das lässt ihn für die Mahre so unberechenbar wirken. Er hat sich widersetzt. Die Metamorphose hat durch ihn an Macht verloren. Obwohl er immer dämonisch war, versucht er, wie ein Mensch zu leben, sogar in den dunkelsten Zeiten, und er hat bitter dafür bezahlt. Trotzdem hält es ihn nicht davon ab. Er stellt uns alle infrage. Deshalb sucht Angelo nach Menschen, die freiwillig übertreten. Er sucht Archetypen. Und er hat dich gefunden.«
»Wie? Wie hat er mich gefunden? Durch meinen Vater?«
Dieser Gedanke hätte Papa zerstört. Ich hoffte inständig, dass er von Angelos Jagd auf mich nichts gewusst hatte. Er hätte es sich niemals verziehen, auch nicht, dass Angelo François auf Paul gehetzt hatte. Doch es war nicht seine Schuld.
»Nachdem dein Vater vor einigen Jahren damit anfing, Mahre zu suchen, die sein Vorhaben unterstützten, wurde Angelo auf ihn aufmerksam und ich könnte mir vorstellen, dass er ihn beobachtet hat und dabei auch auf dich aufmerksam wurde. Eines ergab das andere. Dein Vater empfand ebenso viel wie du. Er hat sich widersetzt, obwohl er bereits ein Halbblut war. Doch der Wille eines jungen Mädchens sollte leichter zu brechen sein …«
»Dachte er«, führte ich Morpheus’ Satz hart zu Ende. »Das dachte Angelo nur. Aber das wird er nicht. Meinen Willen wird er nicht brechen.«
Angelo hatte mich beobachtet, bei meinen vielen Tränen und Träumereien, und alles, was er dabei empfunden hatte, war der Wunsch, mich auf seine Seite zu ziehen, um meinem Vater eins auszuwischen und seine eigene Macht zu verstärken. Er kotzte mich an. Und wenn ich übergetreten wäre und nicht so gespurt hätte, wie er
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