Dornenkuss - Roman
Erleichterung.
»Gibt es wirklich gar keine guten Seiten der Unsterblichkeit?« In Angelos Schilderungen war sie mir stets wie ein Hauptgewinn präsentiert worden.
»Oh doch, die gibt es. Ich kenne Pferdeäpfel in sämtlichen Aggregatzuständen. Das ersetzt jedes Physikstudium«, erwiderte Colin sarkastisch. Ich ging auf seine Frotzelei nicht ein.
»Es war schön, sich darauf freuen zu können, keine Angst mehr haben zu müssen. Es war so beruhigend.« Noch jetzt fühlte ich diese warme, weiche Gelassenheit, die meine Vorfreude begleitet hatte. »Nie mehr Angst, weder vor Krankheit noch vor Tod.«
»Aber genau das ist es doch, was dich zum Menschen macht. Du hast etwas zu verlieren. Wenn man gar nichts zu verlieren hat und alles ewig dauern kann, ist jedes Gefühl überflüssig.«
»Also sind Menschen die besseren Wesen?«, fragte ich mit einem scharfen Blick auf Colins schwarzes Lederarmband. »Vergiss nicht, was sie dir angetan haben.«
»Das werde ich niemals und ja, es waren Menschen. Aber ich finde, es ist ein Trost, sich sagen zu können, dass selbst der schlechteste, niederträchtigste Mensch irgendwann stirbt, während unsereins mit jedem weiteren Jahr den Radius seiner Raffgier erweitern kann«, entgegnete Colin. »Der Tod ist das, was die Menschen von uns trennt. Er ist eine Gnade.«
»Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll …« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Was für ein Leben soll ich führen? Wie soll es aussehen? Welchen Sinn soll es haben? Ich kann doch nicht nach Hause fahren und so tun, als wäre alles in Ordnung … studieren und heiraten und Kinder kriegen …«
»Das ist das, womit du dich nun abfinden musst. Mit deinem Leben. Und ich muss mich mit meiner Unsterblichkeit abfinden. Wie ich es schon einmal sagte, Lassie …« Colin zeichnete versonnen meine Augenbrauen nach, dann wanderten seine Finger über meine Wangenknochen. »Das schöne Ende für einen Liebesroman hatten wir schon. Dieses hier ist das Ende, welches die Wirklichkeit schreibt. Deshalb fangen Schriftsteller damit an, Dinge zu erfinden. Deshalb gibt es Kitsch.«
»Haben wir denn gar keine Chance? Es muss eine Chance für uns geben. Ich liebe dich doch.«
»Ja, tust du das? Immer noch? Und ich soll der Hornochse von uns beiden sein? Mo cridhe , es ist alles wie vorher, unterbrochen von einem höchst unschönen Zwischenkapitel. Aber sonst hat sich nichts verändert. Ich bin alt und will sterben, du bist jung und willst leben.«
»Ich fühle mich aber gar nicht mehr jung.«
Ich ließ meinen Kopf gegen Colins Schulter sinken. Das, was ich nun zu realisieren begann, war mein persönlicher Albtraum. Seit meiner Jugend verfolgte er mich. Jetzt kannte ich ihn und seinen gesamten Schrecken. Es war mein verlorener Sommer. Colin reagierte auf mich wie eh und je, er nahm mich zu sich, bis ich das Rauschen in ihm hörte, erregt und hungrig, vielleicht liebte auch er mich noch, aber unsere Zukunft würde aus kurzfristig arrangierten Treffen bestehen, immer gehetzt von seinem Hunger und überschattet von der Gewissheit, dass ich altern würde und er jung blieb. Es würde so werden, wie er es in den ersten Tagen unserer Italienirrfahrt prophezeit hatte: Ich würde meiner selbst unsicher werden, unsere wenigen Freunde würden sich abgrenzen, ich würde beginnen, ihm Vorwürfe zu machen, wir würden uns streiten, uns vielleicht sogar hassen …
In wenigen Tagen würden Gianna und Paul heimfahren. Mama reiste morgen schon ab. Tillmann würde nur noch so lange ausharren, bis er gegen seine Sucht gewonnen hatte. Ich konnte nicht alleine in der Piano dell’Erba bleiben. Was sollte ich hier? Irgendwann würde es auch in Kalabrien Winter werden. Und doch wollte ich die verbleibenden Sommertage auskosten – selbst wenn sie nur darin bestanden, am Wasser zu sitzen und an die wenigen schönen Momente zu denken, die Colin und ich an diesem Ort geteilt hatten.
»Tu mir nur einen Gefallen, Lassie. Im vergangenen Sommer hast du mich darum gebeten. Jetzt bitte ich dich darum.«
»Ja?« Ich schmiegte meine Lippen an seinen kalten Hals.
»Geh nicht, ohne dich von mir zu verabschieden. Denn das würde ich nicht verkraften.«
G LAUBE, H OFFNUNG, L IEBE
Noch einmal stand ich auf und blickte hinter mich, um mich davon zu überzeugen, dass ich allein am Strand war. Die sinkende Sonne schien warm auf meinen Nacken und meine Haare, die nass vom Baden an meinem Hals klebten. Meinen Bikini hatte sie bereits getrocknet. In mir machte
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