Dornenkuss - Roman
Schmerzen zu haben, um mich trotz meiner Gefühle für Angelo wenigstens vage daran zu erinnern, was geschehen war. Mein Vorhaben war geglückt, erst in der allerletzten Sekunde, aber es war geglückt. »Der Schmerz sollte mich auf den richtigen Pfad lenken. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon bei Morpheus gewesen und wusste alles. Ich musste es aber um jeden Preis vor Angelo verbergen, was nur ging, indem ich mich auf meine Gefühle eingelassen habe, obwohl sie von ihm genährt wurden. Denn er konnte meine Gedanken lesen. Er kannte mich. Und noch etwas …« Jetzt konnte ich nicht anders – ich musste Colin in die Augen sehen, und zwar nicht wie nebenbei und zufällig, sondern direkt und länger als nur wenige Sekunden. Ich stellte mit stolperndem Herzen fest, dass ich nicht mit ihm schlafen musste, um seitwärtszukippen. Ein einziger Blick genügte. »Ich war nicht in Angelo verliebt. Das alles hatte nichts mit Liebe zu tun. Ja, ich hatte … erotische Tagträume von ihm, aber nicht, weil ich in ihn verliebt war, sondern weil es eine Möglichkeit gewesen wäre, ihm nahezukommen …«
»Entschuldige, mein Herz, aber das ist Liebe.«
»Nein, ist es nicht. Ich dachte nie daran, dich zu betrügen oder zu verlassen, das stand außer Frage. Es war vielmehr so, dass … ach, wie soll ich es erklären? Ich wollte das haben, was er ausstrahlte, diese Lässigkeit und Selbstsicherheit, das Spielerische in ihm, seine Unbeschwertheit, Jugendlichkeit – all das wollte ich auch haben. Für mich. Ich glaube, ich habe mich dabei gefühlt, wie ein Mahr sich fühlt. Ich wollte es mir von ihm nehmen. Ich hungerte danach. Ich hungere immer noch danach …« Ich musste eine Pause einlegen, weil mir von meinen eigenen Worten flau im Magen wurde. »Ich hasse ihn und das, was er mit mir und uns getan hat, aber ich sehne mich nach dem, was seinen Zauber ausmachte. Und das bringt mich dazu, mich selbst zu hassen. Ich darf mich nicht danach sehnen …«
»Das war es?«, fragte Colin leise. »Nur Sehnsucht? Von Anfang an?«
»Nur? Sehnsucht kann sehr viel sein. Und sie war nicht erst in mir, seitdem ich ihn getroffen habe. Sie war schon lang vorher da.«
»Also hatte ich nie eine echte Chance bei dir …«
Ich schüttelte verzweifelt den Kopf und erinnerte mich wieder an Giannas Ratschlag. Du musst es ihm sagen. Er muss es erfahren!Ich sollte ihr darin vertrauen, auch wenn ich fürchtete, dass ich für Colin danach wie beschmutzt sein würde.DochGianna hatte mir zehn Jahre Beziehungselend voraus. Vielleicht war die Wahrheit wirklich der beste Weg. Ich holte tief Luft und begann stockend zu erzählen, was ich in Santorin erlebt und gesehen hatte, wie sich Angelos Charisma plötzlich in Grischas Züge geschlichen hatte und dass er schon immer da gewesen war, in meinem Leben, vor Colin, vor all dem, was letzten Sommer seinen Anfang genommen hatte. Colin hörte mit unbewegter Miene zu, in sich verborgen, fast abwesend. Was mochte er denken?
»Das, was ich vorhin gesagt habe, ist das, was mich am meisten daran quält«, schloss ich nach einigen Minuten erschöpft. »Er hat auf mich immer wie ein Mensch gewirkt und nicht wie ein Mahr. Ein Mensch, der sich nur ein bisschen anders ernährt als ich. Und der ewig leben darf, ewig jung bleiben darf. Er kam mir so unschuldig vor. Ich sehne mich immer noch danach und das ist falsch und schwach und töricht.«
»Ich glaube nicht, dass es das ist.« Colin kehrte wieder zu mir zurück. »Möchtest du wissen, wie Angelo gejagt hat?« Ich nickte beklommen. »Nach all dem, was du erzählst, kann es nur so sein …« Colin strich sich die Haare aus der Stirn und ich sah, dass seine Falte im Mundwinkel an Tiefe verlor. Das, was er dachte, schien ihm Hoffnung zu verleihen. »Angelo muss ausschließlich Träume und Erinnerungen von Jugendlichen genommen haben, von Menschen zwischen zwölf und maximal zwanzig, in Unmengen und ohne jede Rücksichtnahme. Er war immer satt. Je satter ein Mahr ist, desto menschlicher wirkt er, das kennst du schon von mir. Er war selbst so gläsern und transparent, dass die Jugendlichkeit seiner Opfer durch ihn hindurchstrahlte, und ich nehme an, dass sie es war, die du bewundert hast und nach der du dich sehnst. Nicht Angelo, sondern die Träume und schönen Gefühle jener jungen Menschen, die er beraubt hat. Sie machten ihn attraktiv und brachten Mann und Frau gleichermaßen dazu, ihn zu mögen. Reiner Diebstahl.«
»Ach, und weißt du, was er mir erzählt hat?« Ich
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