Dornenkuss - Roman
schicken würde? Es sind ohnehin viel, viel weniger, als Du denken magst, und fast keiner von ihnen hat feste Aufenthaltsorte. Nein, die Kreuze markieren Gegenden, die einen besonderen Zauber innehaben und von denen ich hoffe, dass Du sie einen nach dem anderen aufsuchst und angesichts ihrer Schönheit begreifen wirst, was wirklich wichtig im Leben ist. Ich selbst habe es zu spät begriffen. Du und Dein Bruder werdet an diesen Orten das Licht finden, das ich Euch stets verwehrt habe.
Denkt an mich, wenn Ihr Euch in ihm sonnt.«
»Okay, du manipulativer Sturkopf, dann ist dieses Rätsel wenigstens auch gelöst«, wisperte ich und wunderte mich, dass ich dabei lächeln musste. Denn gestern noch hatte ich die Karte erneut zur Hand genommen und mich nicht schlecht über die anderen Markierungen gewundert, denen ich vorher nie große Bedeutung beigemessen oder sie mir gar gemerkt hatte, so sehr war ich auf Italien fixiert gewesen. Aber es war eine nette Ansammlung attraktiver Urlaubsziele für Individualreisende: die britischen Kanalinseln, Mont-Saint-Michel in der Normandie, La Gomera, Korsika, Bornholm – Inseln eben. Ausschließlich Inseln. Weil Papa wusste, dass Tessa das Wasser mied? Oder weil er selbst Inseln seit jeher liebte? Nur ein Kreuz passte nicht in die Reihe und war so winzig, dass ich es beinahe übersehen hätte. Es prangte inmitten der schottischen Highlands. Colins Heimat. Es musste Papa große Überwindung gekostet haben, sie zu markieren, aber mehr hätte er nicht tun können, um mir zu zeigen, dass er meine Liebe zu Colin endlich akzeptiert hatte.
Auch leuchtete mir inzwischen ein, dass es nur eine Europa- und keine Weltkarte war. Papa selbst war in der Karibik befallen worden. Er wollte nicht, dass ich mich auf seine Spuren begab; wenigstens hatte er es zu verhindern versucht.
Doch ab jetzt musste und wollte ich alles selbst entscheiden. Und wenn es bedeutete, den Brief zu lesen, vor dem ich mich so lange versteckt hatte.
»Liebe Elisa,
Du weißt, dass ich in meinem erwachsenen Leben nur drei Mal freiwillig in der Kirche war: als ich Deine Mutter geheiratet habe, bei der Taufe von Paul und natürlich bei Deiner Taufe (Mia bestand darauf). Meine Frömmigkeit lässt also zu wünschen übrig.
Deshalb mag es Dich verwundern, dass ich Dir ausgerechnet Worte aus der Bibel aufschreibe. Doch sie sind frei von jeglichem Dogma und existieren unabhängig von religiösen Glaubensbekenntnissen und ich glaube, dass sie Dir Kraft geben können, in Deinem Leben das zu tun, was für Dich richtig ist.
Menschen, die so viel fühlen wie Du und ich, sind leicht in die Irre zu führen und leicht zu blenden, sobald sie versuchen, sich gegen ihre Emotionen zu wehren. Und sie haben manchmal Angst, sich zu entscheiden, weil sie um die Macht ihrer Empfindungen wissen.
Wann immer Du Zweifel hast oder glaubst, einen Rat zu brauchen, dann lies Dir diese Zeilen durch.
Ansonsten habe ich Dir nicht viel zu sagen – wir waren uns immer so nah, dass ich nichts erklären muss. Ich weiß, dass Du verstehst, was mich angetrieben und bewegt hat.
Du warst mein Augenlicht und wirst es immer bleiben.«
»Oh Gott, Papa«, seufzte ich kopfschüttelnd, nachdem ich mir erneut Tränen von den Wangen gewischt hatte. »Ein Bibelzitat? Muss ich das wirklich lesen?«
Ich drehte das Blatt um, um es zu überfliegen, doch schon die ersten Worte trafen mich mitten ins Herz.
»Das Hohelied der Liebe
Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich dröhnendes Erz und eine lärmende Pauke.
Und wenn ich prophetisch reden könnte
und alle Geheimnisse wüsste
und alle Erkenntnis hätte;
wenn ich alle Glaubenskraft besäße
und Berge damit versetzen könnte,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich nichts.
Die Liebe ist langmütig,
die Liebe ist gütig.
Sie ereifert sich nicht,
sie prahlt nicht,
sie bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht ungehörig,
sucht nicht ihren Vorteil,
lässt sich nicht zum Zorn reizen,
trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht über das Unrecht,
sondern freut sich an der Wahrheit.
Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles,
hält allem stand.
Die Liebe hört niemals auf.
Jetzt schauen wir in einen Spiegel
und sehen nur rätselhafte Umrisse,
dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich unvollkommen,
dann aber werde ich durch und durch erkennen,
so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.
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