Dornenkuss
laut Freud gerade zum Thema passte.
»Ja, manchmal beginnt die Selbsterkenntnis im Schlaf«, frotzelte Colin. Ich öffnete ein Auge, um ihn anzusehen. Er feixte mich freimütig an, die Haare wirr und züngelnd, die Augen entbrannt in schwarzer Glut. Ich hielt ein Schäferstündchen mit Mephisto. Zufrieden ließ ich mein Lid wieder hinabsinken.
»Ach, Colin Jeremiah Blackburn …«, murmelte ich und dehnte jede Silbe, weil ich es so sehr liebte, seinen Namen auszusprechen. Trotzdem kam es mir schwierig vor, meine Stimme zu gebrauchen oder gar Sätze zu bilden. »Diese Augenblicke sind mir die liebsten. Mit dir zusammen … nackt zu sein und … blödes Zeug zu reden … aber dennoch …« Ich hatte keine Kontrolle mehr über das, was ich sagte und sagen wollte. Es perlte von meiner Zunge, als stünde ich unter Hypnose. »Dennoch käme es mir wie Verrat vor, wenn wir jetzt … weitermachen und …« Ein paar Sekunden lang war ich vollkommen weg, dann kämpfte ich mich wieder ins Bewusstsein zurück. Ich musste doch meinen Satz fertig sprechen. Er würde sonst nie verstehen, was ich meinte. »Aber Verrat an wem?«, fragte ich – oder dachte ich es nur? »An wem?«
»An dir selbst, Lassie.«
Colin nahm meine Hand behutsam von sich weg und legte sie in meinen eigenen Schoß. Bei meinem nächsten tiefen Atemzug, ohne dass ich das Geringste dagegen tun konnte, fiel ich hinab in eine liebkosende, weiche Schwärze und ergab mich dem Schlaf.
RUFMORD
»Und? Glücklich?« Oh nein. Nicht Gianna. Und vor allem nicht jetzt. Doch sie stand schon in meinem Zimmer. Ergeben öffnete ich meine Augen. »Kommt sie? Colin war heute Nacht bei dir, nicht wahr? Ich hab euch gehört und … ähm …« Giannas Nasenflügel bekamen winzige Dellen. »Ich hab ihn auf der Terrasse stehen sehen. Nackt. Deshalb … ihr wart glücklich, oder? So etwas machen nur glückliche Männer, sich nachts nackt auf eine Terrasse stellen. Ein unglücklicher Mann tut das nicht. Never ever!«
Ich sagte nichts. Ich war noch zu geschockt von dem, was ich eben erlebt und gesehen hatte. Dass es ein Traum gewesen war, machte keinen Unterschied. Nervös fuhr ich mit der Zunge über meine Zahnreihen und zuckte zusammen, als ich sie mir mit meinen scharfen Backenzähnen beinahe aufschlitzte. Doch der Schmerz brachte Erleichterung. Ich hatte sie noch, allesamt. Vor einigen Minuten war mein Mund eine tote schwarze Höhle gewesen. Nein, meine Zähne waren da und sie wackelten auch nicht.
Waren Colin und ich glücklich gewesen? Es gelang mir nicht, die letzte Nacht in mein Gedächtnis zu rufen. Zu mächtig war das Angstgespenst meines Traumes. Ich saß bereits seit Minuten aufrecht im Bett, doch ich konnte ihn nicht von mir abstreifen. Der Schuss dröhnte noch immer in meinem Kopf.
»Also nicht glücklich? Elisa, ganz ehrlich – das kann so nicht weitergehen. Ich schaffe das nicht mehr! Ich bin kurz vorm Durchdrehen. Diese Warterei macht mich krank. Mir ist dauernd schlecht, ich kann nicht mehr schlafen, hab Panikattacken und … Was ist eigentlich los mit dir? Ellie? Oje, sie kommt. Natürlich, sie kommt und du spürst es gerade …«
»Nein. Gianna, bitte, reg dich ab. Sie kommt nicht.«
»Hast du geweint?« Gianna trat zu mir ans Bett. Ich schüttelte den Kopf und sofort begannen meine Schläfen zu pochen und zu schmerzen, doch dieses Mal wunderte es mich nicht. Mir war gerade eben eine Kugel durch das Hirn gejagt worden.
»Nein, aber …« Trotz meiner Schmerzen schüttelte ich erneut den Kopf. Ich konnte nicht fassen, was ich da geträumt hatte. Wie konnte mein Unterbewusstsein sich nur so etwas ausdenken? Bisher hatte ich jeden meiner Träume irgendwie zuordnen können, einen Bezug zur Realität, und war er noch so bizarr, hatte es immer gegeben. Doch bei diesem hier fehlte er vollkommen. Hoffentlich tat er das.
Ich konnte mit dem Traum nicht länger allein bleiben. Ich musste davon erzählen.
»Ich hab geträumt, meine Mutter … sie … oh Gott …«
»Spann mich nicht so auf die Folter, Ellie. Ich werde sehr unangenehm, wenn meine Nerven überreizt werden, und sie sind schon überreizt. Mehr geht kaum noch.«
»Ich war krank. Sterbenskrank«, begann ich das, was ich erlebt hatte, stockend zusammenzufassen. »Ein Gehirntumor, bösartig und wahrscheinlich tödlich. Die Diagnose hatte mich nicht überrascht, doch ich war entschlossen zu kämpfen, es wenigstens zu versuchen. Auch wenn die Chance, gesund zu werden, verschwindend gering war. Nachdem die
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