Dornenkuss
meinen Ohren abgekupfert und klinisch, so, als hätte sie sie irgendwo aufgeschnappt und auswendig gelernt – ja, als hätten sie gar nichts mit ihr selbst zu tun.
»Ich kann es nicht anders formulieren, Ellie. Ich brauche diese Distanz. Wenn ich sie nicht habe, dann … dann ist es zu nah. Verstehst du das? Es ist zu nah … Ich träume immer noch jede Nacht von ihm. Jede verdammte Nacht!«
Ich glaubte ihr sofort. Ich kannte den Fluch wiederkehrender Träume.
»Und warum hat dein Rolf das getan? Dich so schlecht behandelt und manipuliert? Warum?«
Gianna lachte traurig auf. »Er hatte offensichtlich Spaß daran, Menschen zu seinen Werkzeugen zu machen. Es gibt eben Arschlöcher auf dieser Welt, Ellie. Er merkte es ja nicht einmal richtig. Letztens schrieb er mir, er würde ab und zu an die schönen alten Zeiten zurückdenken. Was für schöne Zeiten, frage ich mich? Es gab keine schönen Zeiten.«
»Siehst du – und das ist der Unterschied. Er war ein Arschloch. Er machte das einfach, ohne es zu reflektieren.« Jedes Wort strengte mich so sehr an, dass ich ungewöhnlich langsam und akzentuiert sprach, beinahe wie eine überstrapazierte Lehrerin. »Bei Colin aber war es eine Notwendigkeit. Er gab mir eine Ohrfeige, um mein Leben zu retten; und er hat mir die Hand zertreten und mich beinahe ertränkt, um Paul retten zu können – deinen eigenen Freund! Ich hatte ihn darum gebeten, alles dafür zu tun, ich habe mein eigenes Leben riskiert! Oder fändest du es besser, Paul wäre draufgegangen?«
Schwer seufzend ließ Gianna sich auf mein Bett sinken.
»Wenn mir damals jemand das alles gesagt hätte wie ich jetzt dir, hätte ich genauso wie du reagiert. Ich hätte es abgewehrt und für Unsinn erklärt. Doch im Nachhinein wäre ich froh gewesen, wenn irgendeiner da draußen den Mut gehabt hätte, mir den Kopf zu waschen. Also, von mir aus kannst du mich von jetzt an hassen, ich sag es dir trotzdem. Er hat dich in den Bauch getreten, Ellie, und …«
»Ich frag mich, wie ihr das überhaupt sehen konntet! Wie konntet ihr das sehen?« Auf der Terrasse ertönte plötzlich Stühlerücken und das Klappern von Geschirr. Paul hatte sich freiwillig darangemacht, das Frühstück zu richten. Mit Schwung schlug ich die offen stehenden Glastüren zu. Sollten wir hier drin doch ersticken – Paul durfte nichts von diesem Gespräch mitbekommen. Das wäre, als würde man Benzin ins Feuer gießen. »Selbst wenn ihr es gesehen habt, Colin hat mich nur in den Bauch getreten, um meine Wut zu vervielfachen und François vergiften zu können …«
»Das weiß ich doch, Elisa. Du musst Colins Verhalten nicht rechtfertigen. Ich hab dir gesagt, dass ich ihn mag, und daran hat sich nichts geändert, im Gegenteil. Ich bin überzeugt davon, dass er diese Dinge weder gern noch leichtfertig getan hat. Aber er hat es getan und für deine Seele spielt es keine große Rolle, ob es eine lebensrettende Maßnahme war oder nicht. Das ist ja das Tragische. Gewalt bleibt Gewalt.«
Jetzt fiel sie schon wieder in diesen Psychoseminar-Jargon. Ja, sie hatte sich bestimmt wunderbar mit meinem Vater unterhalten auf diesem Kongress, bei dem sie sich kennengelernt hatten. Auch Papa verstand es vortrefflich, wie aus dem Lehrbuch zu rezitieren.
»Vielleicht könnt ihr einen Weg finden, damit umzugehen, aber Glück …«, fuhr Gianna etwas sanfter fort, als ich nichts entgegnete, weil mir die Argumente fehlten. Denn sie hatte trotz allem recht. Gewalt blieb Gewalt. »Jetzt schon, so kurz danach … ich weiß es nicht …«
»Ich finde das ziemlich unfair, was du hier abziehst, Gianna.« Ich konnte nicht anders, als sie erneut anzugreifen. Das, was sie sagte, nahm mir jeden Halt. Ich musste zurückschießen, um nicht unterzugehen. »Weißt du eigentlich, in was für einer Situation Colin und ich festhängen? Jeder hier wartet darauf, dass wir glücklich werden, obwohl genau dann etwas Schreckliches passieren wird – selbst das zufriedenste, normalste, gewaltfreiste Paar bekäme damit Probleme! Bei Paul war der Glücksangriff noch einfach, der wusste nichts von unseren Plänen und hat sich mitreißen lassen, aber bei Colin und mir …«
Verdammt. Jetzt hatte ich ihr sogar, ohne es zu wollen, beigepflichtet. Wir konnten das Glück nicht erzwingen, nicht für uns selbst. Nicht, wenn wir wussten, dass wir es versuchten.
»Elisa, du hast mir doch erzählt, dass Colin in dem Konzentrationslager war und Tessa ihn herausgeholt hat …«
»Nein, das habe ich dir
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