Dornenkuss
wenn wir miteinander sprechen. Nein? Mir würde es jedenfalls besser gehen.« Viel besser. Merkte sie nicht, dass ich bettelte? Eine einzelne heiße Träne lief über meine Wange. »Wir können hier doch nicht die ganze Nacht liegen und vor uns hin schweigen, oder?«
Gianna stöhnte unterdrückt auf, vielleicht heulte sie sogar, aber sie machte keine Anstalten, sich zu mir umzudrehen. Nun wandte auch Tillmann seinen Kopf zur Wand. Sie fürchteten mich. Sie hatten Angst vor meinem Atem, vor meinen Händen und vor meiner Haut. Meine Nähe war ihnen zuwider.
Ich musste das alles ganz allein bewältigen. Ich hatte niemanden mehr. Meine zwei besten Freunde lagen nur wenige Meter von mir entfernt und taten so, als wäre ich nicht da. Und der Mann, den ich liebte, hatte nichts anderes im Sinn gehabt, als sich selbst zu töten. Es war wie früher, in der Schule, wenn ich weinte und keine Menschenseele Notiz davon nahm, weil sie dachten, ich wolle nur Aufmerksamkeit erheischen. Doch jetzt war ich wirklich ein Außenseiter, und was mich dazu machte, konnte mich töten.
Ich schob meine Matratze dicht an die Balkontür, sodass ich das Meer im heißen Wind des Scirocco toben hörte, weil es das Einzige war, was mir blieb. Mit weit aufgerissenen Augen wartete ich, bis die Geräusche von unten verklungen waren.
Im Garten loderte noch immer das Feuer.
In meinen Träumen wurde es zu unserem Fegefeuer.
Wir würden alle sterben.
ERBARMEN
»Gibt es einen besseren Grund, sich verwandeln zu lassen und ewiges Leben geschenkt zu bekommen, als todkrank zu sein?«
Pauls rhetorische Frage wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen und verhakte sich erneut wie eine Harpune in meinen Gedanken, als ich nach einem kurzen, unruhigen Schlaf spät in der Nacht aus einem Albtraum erwachte. So schlimm viele meiner Albträume bisher auch gewesen waren – in den meisten Fällen hatte ich mich damit beruhigen können, dass sie niemals oder mit etwas Glück wenigstens nicht sofort eintreffen würden.
Dieses Mal nützten diese Phrasen nichts. Denn was ich geträumt hatte, lag im Bereich des Wahrscheinlichen, auch wenn es in der Realität weniger drastisch ablaufen würde, was seine optischen Finessen betraf. Die Schmerzen jedoch würden weitaus schlimmer sein und die finale Folge dieselbe. Tod. Schmerzen hatte ich im Traum noch kaum empfunden, ich war lediglich von einer dumpfen Schwäche befallen gewesen, wohl wissend, dass das nur der Anfang war. Denn ich war bereits entstellt. Faustgroße Pestbeulen prangten an meinem ausgemergelten Körper, violett schimmernd und so prall, dass sie im Takt meines Herzens pulsierten. Ab und zu brach eine auf und dann quollen nicht nur stinkender Eiter und zähes Blut aus ihr heraus, sondern auch unzählige Schaben und Asseln, die flugs hinauf zu meinem Mund und meinen Augen krabbelten, um dort Zuflucht zu suchen. Ein Albdruck, kreiert von François und Tessa.
Paul, Gianna und Tillmann hatten meine Krankheit in diesem Traum nur achselzuckend zur Kenntnis genommen, mehr nicht. Ich sei ja selbst schuld, warum hatte ich auch so nahe an Tessa herangehen müssen, kein Wunder, dass ich gestochen worden sei, und nun müsse ich eben zusehen, wie ich damit klarkomme. Kein Mitleid, keine Gnade.
Gibt es einen besseren Grund, sich verwandeln zu lassen und ewiges Leben geschenkt zu bekommen, als todkrank zu sein?
Nein, ich rechnete nicht damit, dass Insekten unter meiner Haut nisteten und daraus hervorbrachen. Doch seit heute Morgen waren meine Lymphknoten verdickt. Ich hatte es schon im Halbschlaf bemerkt, weil mein Gesicht beim Schlucken schmerzte und ein leichter Druck auf meinen Ohren lastete. Ich hatte sofort meinen Hals und meine Leisten abgetastet und mein Herz hatte dabei so schnell zu schlagen begonnen, dass mein Atem für einige Minuten beinahe pfeifend ging. Es gab keinen Zweifel: Sie waren dicker geworden. Außerdem hatte ich Fieber. Keine dramatische Temperatur, dazu war mein Kopf noch zu klar, aber in meinen Gliedmaßen nistete sich ein dezenter, allumfassender Schmerz ein, den ich nicht wegschieben konnte. Genau wie jetzt fühlte ich mich, wenn ich krank wurde. Oder wenn ich stundenlang geweint hatte. Aber ich hatte nicht geweint, keine einzige Träne. Ich hätte es gerne getan, um mir ein wenig Erleichterung zu verschaffen, doch ich hatte Angst, es würde mich zu sehr anstrengen.
Fing es schon an? War das der Beginn? Ich hatte Paul nichts davon gesagt. Als er frühmorgens in das überhitzte Dachzimmer
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