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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Bruder vor wie ein Unheil bringender Geist, der uns mitteilen würde, wie viele Tage wir noch zu leben hatten. Er stellte sich vor die Wand, ohne irgendetwas zu berühren. Auch die Tür schloss er lediglich mit seinem Ellenbogen.
    »Ihr müsst mir jetzt gut zuhören. Je aufmerksamer ihr das tut, desto höher stehen die Chancen, dass wir hier heil herauskommen. In Ordnung?«
    Gianna und ich nickten, Tillmann zeigte keine Reaktion und blieb stumm liegen, seine offenen Augen auf die Decke gerichtet.
    »Gut. Ist außer Ellie noch jemand gebissen worden?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Gianna mit vibrierenden Stimmbändern. »Ich hab das Gefühl, sie sind überall, kriechen auf mir herum …«
    »Das ist normal und nur deine Angst«, entgegnete Paul mit überzeugender Ruhe. »Wie auch immer: Fasst einander nicht an. Benutzt nur das Bad hier oben, wascht euch anschließend gründlich die Hände. Verlasst dieses Zimmer nicht. Das Haus steht von nun an unter Quarantäne. Wir wissen nicht, ob und welche Keime Tessa übertragen kann. Es gab damals einige nette Krankheiten, nicht nur die Pest, sondern auch Cholera, die Blattern, Ruhr, Lepra … Kein Grund zur Panik!«, rief Paul, als Gianna zu wimmern begann. »Es kann auch sein, dass sie gar nichts von alldem hat. Außerdem spielen das Immunsystem und die Hygiene eine wichtige Rolle bei der Abwehr solcher Infekte. Früher haben die Menschen ihre Nachttöpfe in die Gassen ausgeleert und sich gar nicht gewaschen oder sich gemeinsam in Badestuben getroffen, wo sich Keime in Rekordzeit ausbreiten konnten. Genau deshalb müsst ihr euch so gut wie möglich isolieren. Ich hab euch Sagrotan in den Flur gestellt. Wir haben nur noch zwei Flaschen, also geht nicht allzu verschwenderisch damit um.«
    Paul atmete tief durch, als müsse er sich selbst Mut zusprechen, um weiterzureden. Anscheinend war dieser Teil seines Vortrags noch der harmloseste gewesen.
    »Falls diese Flöhe die Pest übertragen – falls! –, ist es höchstwahrscheinlich die Beulenpest.«
    Nun entwich auch mir ein Keuchen. Die Beulenpest. Wenn’s sonst nichts ist!
    »Ihr müsst darauf achten, ob eure Lymphknoten stark anschwellen und dick und hart werden. Wenn ja, sagt mir sofort Bescheid.« Er zeigte uns, wo wir uns abtasten mussten. Hals, Achselhöhle, Leisten. »Das Gleiche gilt für Fieber, starken oder blutigen Durchfall, Erbrechen, Husten von Blut. Die Tuberkulose war damals auch weitverbreitet, doch sie hat eine sehr lange Inkubationszeit. Und man kann sie gut behandeln. Ein bisschen Durchfall ist nicht besorgniserregend und kann durch unsere Anspannung ausgelöst worden sein.«
    »Und die Pest? Was hat die für eine Inkubationszeit?« Ich zwang mich, mir vorzustellen, in einer hochinteressanten medizinischen Vorlesung zu sitzen, die ich schon lange hatte hören wollen. Andernfalls würde ich ausrasten. Total ausrasten.
    »Drei Tage bis zu einer Woche, wie auch die anderen Seuchen. So lange müsst ihr hier ausharren. Ich bringe euch zu essen und zu trinken. Außerdem spritze ich euch gleich ein vorbeugendes Antibiotikum.«
    Was für ein Segen es doch war, dass Paul damals in der Klinik ohne Skrupel seiner Kleptomanie nachgegangen war. Trotzdem, nicht jedes Antibiotikum half gegen jede Krankheit, es gab verschiedene Erreger, sie waren im Laufe der Jahrhunderte mutiert, manche davon waren sogar resistent gegen Penizillin, und kein moderner Wissenschaftler hatte je ein lebendiges Pestbakterium aus dem Mittelalter unter seinem Mikroskop gehabt.
    Paul kam an unsere Lager, drehte uns zur Seite und hieb uns ohne jegliches Zögern die Spritzen in unsere blanken Hintern.
    »Und was ist mit dir?«, fragte Gianna ängstlich, während Tillmann immer noch in totenähnlicher Lethargie auf seinem Laken ruhte. Während der Spritze hatte er keinen Laut von sich gegeben und war auf die Matratze zurückgerutscht wie eine Puppe, nachdem Paul ihn losgelassen hatte.
    »Ich kümmere mich schon um mich, keine Sorge«, antwortete Paul. An seinen Augen konnte ich sehen, dass er lächelte – sein bezwingendes Lausbubenlächeln, dem ich nie hatte widerstehen können. Dann wurden sie wieder ernst. »Kommst du kurz mit mir, Ellie?«
    Ich folgte ihm in den winzigen Flur, wo er die Tür zum Zimmer schloss und mich ins Badezimmer lotste. Aus dem Salon ertönte ein Poltern und ein Krachen.
    »Räumt sie um?«, fragte ich gefasst.
    Paul betrachtete mich einige Sekunden mit unergründlichem Blick, bevor er antwortete.
    »Du bist tough,

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