Dornenkuss
Schwesterchen. Verrückt, aber tough. Was habt ihr euch da eigentlich reingepfiffen?«
»Halluzinogene Pilze. Sie sollten künstliche Träume erzeugen, damit Tessa uns keine echten stehlen konnte und wir klar blieben. Anscheinend hat es funktioniert. Tillmann war vorhin schon wieder nüchtern. Was ist …?« Ich deutete nach unten. »Was ist mit ihr? Wie ist sie so drauf?« Jemine, was für eine Frage. Doch bei Tessa fehlten mir die Worte.
»Ich weiß es nicht genau«, gestand Paul. »Sie hat Fieber, das gerade steigt, ihre Lunge ist hochgradig verschleimt, sie hustet Blut, die Lymphknoten schwellen … ich kann es nicht sagen. Es kann alles sein. Bisher hat sie nur Urin gelassen – übrigens neben den Kamin –, etwas braun, aber ich habe keine Teststreifen dabei. Ich kann weder euer Blut untersuchen noch sonstige Laboranalysen machen. Wir praktizieren hier Medizin wie im Altertum. Bis auf die Medikamente. Und da bin ich auch schon bei meiner Bitte.«
»Deiner Bitte?«
»Ja.« Paul blickte mich fest an. Ich fand ihn immer noch befremdlich mit seinem Häubchen und dem Mundschutz und es tat mir weh, ihn nicht anfassen zu dürfen. Ich hätte mich gerne in seine Arme geflüchtet, wo schon die anderen mich am liebsten aus dem Zimmer werfen wollten. Doch Berührungen waren mir verboten worden.
»Ich will mir das Penizillin nicht selbst spritzen. Das kann schiefgehen. Es sollte nun mal in den Allerwertesten und ich habe mich vorhin verhoben, als wir Tessa in den Salon schleppten. Ich möchte, dass du es tust. Und noch etwas sollten wir gemeinsam entscheiden. Ich habe sechs Spritzen übrig. Ich will drei für euch reservieren, mindestens drei. Zwei für Tessa. Da sind wir schon bei fünf. Bleibt noch eine. Kann ich sie für mich nehmen oder nicht?«
»Da überlegst du noch?«, fragte ich entrüstet. »Natürlich musst du sie nehmen, wer denn sonst!«
»Ich bin nicht gebissen worden, Ellie. Du schon. Und du hast dich schon mal für mich geopfert. Außerdem könnte es sein, dass Tessa sie benötigt …«
»Oh, an Tessa musst du dabei nicht denken. Wieso braucht sie überhaupt eine?«, ereiferte ich mich.
»Na ja, gesund ist sie nicht, oder? Und ich bin Arzt. Es ist meine Pflicht, kranken Menschen zu helfen.«
War Paul bewusst, was er da gerade gesagt hatte? »Ich bin Arzt.« Trotz des Grauens um uns herum war das ein besonderer, ja, beinahe ein feierlicher Moment. Er bekannte sich endlich wieder zu dem, was er früher immer hatte sein wollen und François ihm genommen hatte. Er wollte Tessa ebenso heilen, wie er es bei uns tun würde. Wir hatten nur nicht genügend Antibiotika dafür. Ich begann wieder zu schwitzen, kalt und heiß gleichzeitig.
»Ellie, denke nicht, dass ich dich hierlasse, falls du krank wirst. Natürlich bringe ich euch in eine Klinik, wenn ihr Symptome zeigt! Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme …«
»Paul, du kannst uns nicht in ein Krankenhaus bringen! Wenn wir das tun, müssen wir auch sie melden, und dann? Wie sollen wir ihnen erklären, wer sie ist und woher sie stammt? Wie sollen wir die Pest erklären? Ganz abgesehen von der Gefahr, dass wir sie verbreiten, wenn wir das Haus verlassen, und dem Schnitt in ihrer Brust und dem Messer mit ihrer DNA auf der Klinge!« Eine DNA, die für Wissenschaftler ein gefundenes Fressen war. Es wurde immer anstrengender, flüsternd zu diskutieren. Mein Kehlkopf wehrte sich gegen mein Zischeln und mein Kopf schien den Druck meiner Stimme nicht mehr halten zu können.
»Noch hat niemand die Pest. Versuch, ruhig zu bleiben; bisher hältst du dich am besten und ich wäre stolz auf dich, wenn du das bewahren könntest. Also, möchtest du mir die Spritze setzen?«
Diese Frage bedurfte keiner Antwort, wobei ich den Verdacht hegte, dass Paul hier eher für eine Beschäftigungstherapie sorgte, damit ich keinen Nervenzusammenbruch erlitt. Im Notfall hätte er sich die Injektion auch selbst geben können. Ich ließ mir zweimal erklären, was ich zu tun hatte und worauf ich achten musste. Dann desinfizierte ich meine Hände, zog sterile Handschuhe über, die Paul im Flur deponiert hatte, und setzte die Spitze der Kanüle auf Pauls Haut.
»Jetzt bloß nicht pupsen, ja?«
Pauls Hintern wackelte kurz vor Lachen. Ich hatte keine Ahnung, woher unser Humor kam, aber es war besser zu lachen, als den Verstand zu verlieren. Ich wusste nur nicht, wie lange ich das noch durchhalten konnte.
Ich musste mehr Kraft als erwartet aufbringen, um die feine Kanüle durch die Haut
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