Dornenschwestern (German Edition)
spitzer und eleganter, im Alter reifen ihre hübschen Züge zu wahrer Schönheit heran. Sie hat in diesem Jahr ihre fünfzehnjährige Tochter Mary verloren und ihren dritten Sohn George – ein Jahr, nachdem sie die Hinrichtung seines Namensvetters und Onkels erwirkt hat. Ich frage mich, ob diese Verluste sie, von endlosem Ehrgeiz und ihrem Wunsch nach Rache getrieben, haben innehalten lassen. Die Trauer hat ihr eine einzelne weiße Strähne in ihrem blonden Haar beschert und sie stiller und nachdenklicher gemacht. Sie kleidet sich immer noch wie eine Kaiserin, sie trägt ein Kleid aus goldenem Stoff, und um ihre schlanke Taille sind goldene Ketten geschlungen. Als ich eintrete, flüstert sie Anthony Woodville etwas zu, er blickt auf, und die beiden schenken mir dasselbe charmante unaufrichtige Lächeln. In den dicken Ärmeln meines Kleides spüre ich, wie meine Hände vor Kälte kribbeln, als fegte ihr Blick wie ein frostiger Wind über mich hinweg.
«Komm», sagt Richard, und wir treten ein und verneigen uns vor dem König und der Königin. Edward begrüßt Richard freudig, während sie ihm, den sie heimlich einen Verräter genannt hat, einen lauwarmen Empfang bereitet.
Für alle anderen am Hof ist das Weihnachtsfest die Gelegenheit, der königlichen Familie nah zu sein und Freundschaften und Liebesbande zu knüpfen, die sich womöglich in der Zukunft auszahlen. Um den König herrscht ein unablässiger Wirbel, denn er hat immer noch Vermögen zu vergeben und große Gunst zu verschenken. Doch es wird mit jedem Tag offenkundiger, dass die Königin und ihre Familie, ihre Brüder und Schwestern, selbst ihre Söhne aus erster Ehe den Hof und den Zugang zum König kontrollieren. Sie erlaubt ihm, sich Geliebte zu nehmen, ja, er prahlt sogar mit ihnen; sie erlaubt ihm, Fremde zu begünstigen. Aber die großen Geschenke gehen nur an ihre Familie und ihre angeheiratete Verwandtschaft. Nicht dass sie sich je in den Vordergrund drängt. Bei Unterhaltungen ergreift sie nie das Wort, sie steht nie auf oder hebt die Stimme, und doch liegt alle Macht des Hofes in ihren Händen. Ihre Brüder Anthony, Lionel und Edward überwachen das Kommen und Gehen des fröhlichen Getümmels und erinnern an Kartenbetrüger, die nur darauf warten, dass ein Narr kommt und spielen will. Ihre Söhne aus erster Ehe, Thomas und Richard, vom König in den Adelsstand erhoben, durch ihn zu reichen Männern geworden, kontrollieren den Zugang zu den königlichen Gemächern. Nichts geschieht ohne ihr Wissen und ihre lächelnde Zustimmung.
Die königliche Familie ist stets wunderschön gekleidet, die königlichen Gemächer erstrahlen im Wohlstand. Edward vernachlässigt Schiffe und Burgen, Häfen und Hafendämme. Für die Paläste seiner Familie hingegen wendet er große Summen auf, besonders für die prächtigen Gemächer der Königin, die er an jedem Ort, den sie als ihren neuen Lieblingsort bezeichnet, vergrößern und verschönern lässt. Edward überlässt es Richard, mit seiner von ihm zusammengestellten Armee die Nation gegen Schottland zu schützen, gibt jedoch ein Vermögen für eine neue Turnierrüstung aus, die niemals ein echtes Schwert zu sehen bekommt. Was Aussehen und Charme angeht, ist er ein vollkommener König, aber das ist alles – und nichts als Fassade. Er sieht aus wie ein König, und er spricht wie ein König, aber er regiert nicht wie ein König. Die Macht liegt in den Händen der Königin, und sie hat sich nicht verändert – immer noch eine schöne Frau, die aus Liebe geheiratet hat, ihre Kinder abgöttisch liebt und charmant ist zu ihren Freunden. Sie ist unwiderstehlich. Wer ihr begegnet, käme niemals auf die Idee, dass sie eine äußerst skrupellose Intrigantin ist, die Tochter einer bekannten Hexe. Sie hat Blut an ihren schönen weißen Händen und, trotz ihrer schlanken weißen Finger, schmutzige Nägel.
Die Weihnachtsfeiern sollten die prunkvollsten werden, die der Hof je erlebt hat, doch kurz nach dem Weihnachtstag kommt aus Burgund die Nachricht, dass der Verwandte der Königin, Herzog Maximilian, ein falsches Spiel mit ihr getrieben hat. Genau wie sie nur auf den eigenen Vorteil aus, hat er mit König Ludwig von Frankreich Frieden geschlossen und dem Sohn des Königs seine Tochter zur Gemahlin gegeben und Burgund und Artois als Mitgift.
Richard ist außer sich vor Zorn und Sorge – Burgund war immer die starke Kraft, mit der wir Frankreichs Macht ausgeglichen haben. Die Provinzen, die an Frankreich gingen, Burgund
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