Dornentöchter
Flügel so fest um sie geschlungen, dass sie ihn nicht allein lassen konnte, oder dergleichen. Aber jetzt gerade schrieb sie nicht, deshalb gab es keine Entschuldigung.
Thomasina schloss die Augen und stellte sich vor, sie wäre in der Lage, ihre Mutter in einen Frosch zu verwandeln. Wie gern würde sie Pearl als kleines, grünes, warziges Etwas sehen. Dann würde sie den Frosch hinaus in den Garten tragen, ihn Marguerite zeigen (die natürlich schreien und in Ohnmacht fallen würde), und dann würde Thomasina den Mummy-Frosch sanft auf den Boden setzen und darauf warten, dass ein Vogel herabgeschossen kam. Thomasina lächelte, als sie sich ausmalte, wie die winzigen Froschbeine im Schnabel des Vogels zappeln würden, während dieser in den blauen Himmel davonflog. Daddy wäre glücklich, weil Mummy ihn nicht mehr anschreien könnte, und Thomasina selbst würde sich aus der Speisekammer alles zu essen nehmen, was sie wollte! Und sie würde Daddy befehlen, Angel als Kindermädchen zurückzuholen. Daddy könnte Angel heiraten, und dann wären alle für immer und ewig glücklich.
»Ich habe mein erbärmliches Leben so satt!« Der Schrei ihrer Mutter holte Thomasina wieder in die Gegenwart zurück. War ihre Mutter betrunken? Angel hatte dieses Wort oft benutzt. Sie hatte mit verkniffenem Gesicht gesagt, Pearl würde wieder »betrunken riechen«.
»Ich habe meine dummen Bücher satt, meinen rückgratlosen Ehemann und diese verdammte, trotzige Thomasina! Mein Gott, warum musste ich die bekommen? Warum nicht einfach nur Marguerite?«
Dieser Aufschrei traf Thomasina ins Herz wie ein Dolch. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wischte sie ärgerlich mit dem Ärmel fort. »Stock und Stein brechen mein Gebein, doch Worte bringen keine Pein«, hatte Angel Thomasina mit verständnisvollem Blick zugeflüstert, wann immer Pearl gemeine Dinge sagte. Aber Thomasina hasste es, wegen Mummys Sticheleien zu weinen. Nur Babys und kleine Mädchen wie Marguerite weinten wegen so was. »Ich hasse dich auch«, flüsterte sie. »Eines Tages bringe ich dich um. Ich wünschte, Angel wäre meine Mummy.«
Thomasina war erfüllt von widersprüchlichen Gefühlen. Sie verachtete ihre Mutter für ihre mangelnde Selbstkontrolle – schließlich tat sie sich bloß selber leid! Thomasina wiederum würde für ein solches Verhalten sofort von ihr gescholten! Aber irgendwie hatte sie ganz gegen ihren Willen auch Mitleid mit ihrer Mutter. Pearl schluchzte herzzerreißend, weil sie nie die Orte auf der Welt sehen würde, an die sie gerne reisen wollte. Und Thomasina verspürte einen vertrauten Stich des schlechten Gewissens, denn zweifellos würde ihre Mutter später ihr die Schuld an dieser Stimmung geben.
Thomasinas Magen gab ein weiteres ungeduldiges Knurren von sich. Wann würde Mutter sie endlich zum Mittagessen rufen? Doch die schlug inzwischen gegen die Wände und schrie, sie habe Lachvogel- und Spinnenabenteuer so satt, und alles, was sonst noch an tollen Büchern pausenlos in ihr auftauchte. Wenn sie doch nur Zeit hätte, sie zu schreiben! Bumm! Bumm ! Immer weiter tobte sie und hämmerte gegen die Wand.
»Verrückt«, flüsterte Thomasina. »Sie ist verrückt geworden.« Wie konnte ihre Mutter behaupten, sie hätte keine Zeit zum Schreiben, wenn sie nichts anderes tat, als in ihrem Schreibzimmer zu sitzen und sich Geschichten auszudenken? Sie hatte nie Zeit, mit ihren Töchtern zu spielen oder ihnen vorzulesen oder ihnen wenigstens etwas zu essen zu machen – Schreiben war alles, was sie den lieben langen Tag machte.
»Teddy. Oh, Teddy!« Nun gab Pearl ein anderes Geräusch von sich, ein ersticktes Schluchzen. Thomasina runzelte die Stirn. Ihr Magen krampfte sich vor Übelkeit und Empörung zusammen. Warum um alles in der Welt rief Mutter nach Teddy, wenn der doch tot war? Dann erschrak sie noch mehr, als sie Pearl nach ihrer eigenen Mutter rufen hörte. Thomasina hielt sich die Ohren zu, um das erbärmliche Heulen nicht mehr mit anhören zu müssen. Die Wut ihrer Mutter war ihr bei weitem lieber als dieses furchtbare, verlorene Weinen.
Die Uhr im Flur schlug eins. Zu Thomasinas großem Entsetzen klopfte es kurz darauf laut an der Tür. In ihrer Panik drückte sie sich mit geschlossenen Augen so flach sie nur konnte an die Wand und betete, dass ihre Mutter sie nicht entdecken würde, wenn sie die Haustür öffnete.
»Na, das wurde aber auch Zeit. Sie haben behauptet, Sie wären ein Muster an Pünktlichkeit!«, verkündete Mutter in
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