Dornentöchter
sie verschluckt.
Betty hörte ihre Mutter die Treppe heraufkommen und schob Die Netzespinnerin unter ihr Kopfkissen. Hoffentlich würde ihre Mutter nicht bemerken, dass es fehlte. Seit sie hierhergezogen waren, hatte sie das dringende Bedürfnis, so viel wie möglich über ihre Großmutter herauszufinden.
Die Leute machten immer wieder Bemerkungen über ihre Ähnlichkeit mit Pearl, aber Betty selbst konnte sie nicht erkennen. Pearl war wie ein alter Filmstar mit ihren riesigen Augen und dem kleinen Gesicht. Sie war dünn und elegant. Betty fühlte sich nie dünn oder elegant. Ihre Mutter sah für eine Frau über fünfzig nicht schlecht aus. Die Männer schauten ihr auf der Straße immer noch hinterher und manchmal erntete sie anerkennende Pfiffe. Sogar Bettys Freundinnen erwähnten immer wieder, wie gut ihre Mutter aussah. Betty hatte das Gefühl, sie selbst hätte die Gelegenheit verpasst, als die Schönheit verteilt wurde. Wenn sie nur ein bisschen abnehmen könnte, dann würde das ihre Züge vielleicht verbessern. Ihr Gesicht erschien ihr so rund im Vergleich zu den anderen Frauen in ihrer Familie, ihre Schultern zu breit, ihr Busen zu groß, die Hüften und Oberschenkel zu stramm. Aber sie wusste, dass sie diese zerstörerischen Gedanken nicht zulassen durfte. Sie lag im Bett und versuchte, die depressive Stimmung und den Selbsthass zu bekämpfen, die wie schwarzer Nebel durch sie hindurchwaberten. Sie versuchte es mit einer Visualisierung, die Sarah ihr in einer der Therapiesitzungen beigebracht hatte: Sie stellte sich vor, wie sie mit Hilfe eines großen Schwerts die negativen Gedanken angriff und außer Gefecht setzte, um sich danach darauf zu konzentrieren, Licht und Schönheit in sich hineinzuatmen.
Seit ihre Mutter von der neuen Schule angefangen hatte, merkte sie, dass sie sich zunehmend gestresster fühlte. Schrecken erfüllte Betty, wann immer sie daran dachte, dass sie dort mit Freundeskreisen konfrontiert würde, die schon seit Jahren bestanden. Im Poet’s Cottage jedoch fühlte sie sich beschützt und sicher. Gleichzeitig vermisste sie ihren Vater. Es stiegen ihr immer noch Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte, wie ihre Mutter ihn behandelt hatte. Es war kein Wunder, dass er Mum wegen einer anderen Frau verlassen hatte, so wie sie ständig an ihm herumnörgelte.
Betty lauschte, wie ihre Mutter sich auf der anderen Seite des Flurs bettfertig machte. Das Rauschen der Toilettenspülung, das Summen der elektrischen Zahnbürste, laufende Wasserhähne. Bettys Tür wurde leise geöffnet und sie spürte, wie ihre Mutter dort stand und nach ihr sah, wie sie es immer getan hatte. Dann entfernten sich ihre Schritte wieder.
Betty lag in der Dunkelheit und lauschte dem Wind, der an den Fensterläden rüttelte, dem Krachen der Wellen und den knarrenden Geräuschen im Haus. Sie fragte sich, weshalb ihre Urgroßmutter, die doch offensichtlich alles besaß – bejubelte Schönheit, zwei bezaubernde Töchter, eine Karriere als Schriftstellerin, einen ihr treu ergebenen Ehemann, und, in Bettys Augen das Beste von allem, einen schlanken Körper –, Opfer eines sadistischen Killers geworden war. Wer hatte ihrer Urgroßmutter an jenem Tag im Keller das Leben genommen? Ein Freund oder ein Fremder? Als sie hörte, wie die Tür ihrer Mutter geschlossen wurde, setzte sie sich auf, schaltete die Nachttischlampe an und klappte ihren Laptop auf, in der Hoffnung, dass Sadie das Geräusch des hochfahrenden Computers nicht hören würde.
Sie checkte ihren Blog und ihre Laune sank. Keine interessanten Freundschaftsangebote und nur ein Kommentar. Nichts von Brad. Vermisste er sie überhaupt? Es war, als sei sie vom Erdboden verschwunden. Betty las ihren letzten Blog-Eintrag noch einmal: Es ist total irre, in einem Haus zu wohnen, in dem es spukt. Die gesamte Stadt spricht von diesem Geist und man kann seine Gegenwart hier wirklich spüren. Nicht wie bei Stephen King, sondern eher wie eine tiefe Traurigkeit, als gäbe es etwas, das noch gelöst werden müsste. Wenn ihr sehen wollt, wie meine Urgroßmutter aussah, hier ist ein Link zu ihrer Fan-Website: www.pearltatlow.com. Seht euch nur die tollen Klamotten an, die sie trägt. Ganz schön cool, was? Die würden bei eBay oder auf den Märkten in Paddington eine Menge einbringen. Ich finde ihre Schuhe total klasse!
Abgesehen vom Geist meiner Urgroßmutter habe ich eine wirklich verrückte Großtante, die wie eine hutzlige, alte, böse Hexe am Ende des Gartens wohnt. Ich
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