Dornentöchter
Dass er auch das Poet’s Cottage gebaut hat, wissen Sie doch sicherlich? So ein schönes Haus. Es ist eine Tragödie, was der arme Mann alles erleiden musste. Kein Wunder, dass er darüber den Verstand verloren hat. Das waren harte Zeiten damals. Heutzutage jammern die Leute über das Wetter und die Lebenshaltungskosten. Wie hätten sie je das ertragen, was unsere Vorfahren aushalten mussten?«
»Mutter, müssen wir unbedingt über Geschichte sprechen?«, ertönte ungeduldig eine gehauchte Kleinmädchenstimme. »Bestimmt langweilst du Birdie zu Tode. Hallo, Birdie, ich bin Violet.«
Ich blickte hinunter zu Violets kleinem, hübschem Gesicht, das von hochgesteckten goldenen Löckchen umrahmt wurde. Das Einzige, was ihre Schönheit schmälerte, war ein permanent gelangweilter Gesichtsausdruck. »Sehr erfreut, Violet«, erwiderte ich. »Aber ich finde Geschichte eigentlich sehr interessant. Sie haben wirklich Glück, in einem Haus mit so viel Atmosphäre zu leben.«
»Glück, in diesem zugigen, rattenverseuchten Mausoleum zu hausen? Wenn es nach mir ginge, würde ich den alten Kasten abreißen und etwas Neues bauen, das moderner und praktischer ist. Etwas, wo es sich unterhaltsamer wohnt. Vielleicht im Stil des Art déco.«
»Dann bin ich, wenn Sie verzeihen, wirklich froh, dass Sie das nicht zu entscheiden haben.« Vor Schreck hatte ich die Sprache wiedergefunden. »Wir müssen unsere Geschichte bewahren. Für künftige Generationen wird es von größter Bedeutung sein, dass die Herrenhäuser von Tasmanien erhalten bleiben.« Mrs Bydrenbaugh warf mir einen anerkennenden Blick zu, während die Miene ihrer Tochter unmissverständlich ausdrückte: Was sind Sie doch für eine schreckliche Langweilerin!
Ich sah zu Father Kelly hinüber, der in einem Sessel beim Feuer saß und sich offensichtlich wohl fühlte. Bedeutungsvoll blickte er zwischen mir und Maxwell hin und her, ehe er mir kühl zunickte und dabei ohne Zweifel an meine letzte Beichte dachte (an die Verachtung in seiner Stimme erinnerte ich mich nur ungern). Ich hatte geglaubt, Priester würden niemanden verurteilen, aber da hatte ich mich offensichtlich getäuscht. Kein Ave-Maria konnte die Peinlichkeit vergessen machen, dass sogar ein geweihter Mann mein Geheimnis dermaßen verwerflich fand.
Pearl kehrte ins Zimmer zurück, wobei ihr Oberteil noch weiter verrutscht war. Es fiel uns wohl allen auf, obwohl wir taten, als hätten wir nichts bemerkt. Ich vermied es, Maxwell anzusehen, für den Fall, dass er denselben Verdacht hegte wie ich.
»Die Mädchen wollen Victor nicht gehen lassen«, erklärte sie. »Thomasina besteht darauf, dass er ihr Milly-Molly-Mandy vorliest. Außerdem versucht sie, mit Lügengeschichten über ihren Zahn Aufmerksamkeit zu bekommen.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Draußen tobt ein ziemlicher Sturm«, fuhr sie fort. »Nach dem Mord sollten wir uns alle ausziehen und im Mondschein tanzen.« Victor, der eben zurückkam, lachte sie aus, und ich tat so, als würde ich meine Nägel untersuchen, während ich innerlich schäumte, weil sie so billig und durchschaubar klang.
»Niemals!«, rief Mrs Bydrenbaugh und warf Father Kelly einen Seitenblick zu. »Nach dem Mord werde ich gemütlich in meinem Bett liegen und dem Wind lauschen. Sie werden mich nicht zu Ihren heidnischen Machenschaften verführen.«
Violet brach in krampfhaftes Gelächter aus, vermutlich beim Gedanken, ihre Mutter könnte tatsächlich nackt herumtanzen. Sie klang wie ein Pferd mit einem hysterischen Lachanfall.
»Hört, hört!«, erwiderte Pearl. »Hört ihr auch den alten Köter der Nachbarn zwei Häuser weiter? Irgendwann erwürge ich diesen Hund noch. Kläfft Tag und Nacht bei jeder Kleinigkeit. Unsere nächsten Gäste kommen wohl!«
Man hörte ein Klopfen an der Tür und sie lief, um ihnen aufzumachen. Dann kam sie mit zwei Männern zurück, die ich vom Sehen her kannte, Edward Stephens und sein Bruder Arthur. Die Familienähnlichkeit war unverkennbar, auch wenn Arthur etwas kräftiger gebaut war. Sie trugen billig wirkende Anzüge und Gummistiefel an den Füßen. Ich konnte hören, wie Pearl ihnen befahl, die Schuhe abzuwischen oder auszuziehen, bevor sie eintreten durften.
»Da draußen schüttet es«, sagte Edward. Beide Männer hatten nasse Haare und feuchte Gesichter.
»Jetzt sind wir fast komplett«, verkündete Pearl gut gelaunt. »Wir warten nur noch auf unser Medium.«
Wie aufs Stichwort ertönte draußen auf der dunklen Straße
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