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Dornentöchter

Dornentöchter

Titel: Dornentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josephine Pennicott
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Augen zu sehen, schnürte mir den Hals zu. Was war nur zwischen ihm und Pearl dort oben passiert? Hatte meine Freundin mein Vertrauen missbraucht?
    Pearl lachte weiterhin schallend und brachte einen albernen Trinkspruch nach dem anderen aus. »Ich möchte einen Toast auf alle verstorbenen Dichter, rastlosen Untoten, T. S. Eliots Hollow Men, auf Dionysos, Jean Cocteau, Old Mother Hubbard aussprechen, sowie auf den Penis und die Muschi, die euch gezeugt haben. Auf Sweeney Todd, Rudolph Valentino und selbstverständlich auf den König!«
    Ich gebe zu, dass mir Pearl an diesem Abend schrecklich auf die Nerven ging. Ihr Benehmen war – wie meine Mutter es genannt hätte – unreif und vulgär. Ich sehnte mich nach einem ruhigen Zufluchtsort, an dem ich mich meiner zunehmenden Ernüchterung stellen konnte.
    Nach dem ausgedehnten Dinner bestand Pearl darauf, dass wir uns alle nach draußen begaben, um vor der Séance im Mondlicht zu tanzen. Es regnete immer noch, aber wie immer setzte Pearl ihren Willen durch.
    »Seid mir gegrüßt, Artemis und Hekate!«, rief sie und wiegte sich wie ein Derwisch hin und her. Dann packte sie einen der Stephens-Jungs und versuchte, sich mit ihm im Kreis zu drehen. Ich erwartete schon fast, dass sie sich die Kleider vom Leib reißen und den Mond anbellen würde. Einerseits beneidete ich sie wegen ihrer Hemmungslosigkeit, andererseits stieß mich ihr Gebaren ab. Das war das erste Mal, dass ich die beinahe kindliche Unreife und Kälte im Zentrum von Pearls Persönlichkeit verspürte: diesen habsüchtigen, gierigen Kern, der sich keinen Deut um die Gefühle oder Bedürfnisse anderer scherte, solange nur ihre eigenen Wünsche sofort erfüllt wurden.
    Mit Ausnahme von Jean versammelten wir uns alle in einem Halbkreis. Ich sah zu Maxwell hinüber, der beobachtete, wie seine Frau auf dem Rasen einen anderen Mann umarmte, und ich war mir nicht sicher, ob Tränen oder Regen auf seinem Gesicht glänzten. Ich glaube, dass sich auf eine geheimnisvolle Art und Weise in diesem Moment, während ihres bacchantischen Rituals, Pearls Schicksal besiegelte.
    »Das hier ist mir der kostbarste Freund auf der ganzen Welt«, erklärte Jean, als wir irgendwann ins Haus zurückkehrten und uns um den Küchentisch setzten, um endlich mit der Séance zu beginnen. »Meine Mutter hat sie von meiner Großmutter geerbt.« Mit zärtlicher Sorgfalt wickelte sie eine schwarze Kristallkugel aus.
    »Was hat die Dame da in der Hand?«
    Die Frage ließ uns alle zusammenzucken. In der Tür stand Thomasina in einem schmuddeligen grünen Morgenmantel.
    »Oh! Du unartiges Kind!«, schimpfte Mrs Bydrenbaugh. »Was fällt dir ein, uns alle so zu erschrecken! Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen!«
    Auch Pearls Miene veränderte sich von ausgelassener Fröhlichkeit in Zorn. »Was ist denn jetzt wieder? Hab ich dir nicht gesagt, dass du unter keinen Umständen herunterkommen darfst?«
    »Ich konnte nicht schlafen«, erwiderte Thomasina. »Ihr habt alle so viel Lärm gemacht. Mein Mund und mein Bauch und mein Kopf tun mir weh. Und als ich aus dem Fenster geschaut hab, hab ich im Garten einen Geist gesehen und in der Küche Geräusche gehört.«
    »Du sollst Erwachsenen nicht widersprechen, kleines Fräulein«, wies Mrs Bydrenbaugh sie zurecht.
    »Immer musst du alles kaputtmachen!«, zischte Pearl ihr zu, und das Mädchen erwiderte ihren Blick voller Abscheu. »Wenn ich dir sage, dass du etwas nicht tun darfst, dann bedeutet das genau das!«
    »Ich hab Hunger«, murrte Thomasina störrisch. »Ihr habt alle gelacht und geschrien. Was macht diese Dame mit ihrer Kugel in unserer Küche? Sagt sie die Zukunft voraus?«
    »Das geht dich überhaupt nichts an! Und jetzt verrate ich dir deine Zukunft: Du gehst sofort wieder ins Bett und wirst eine Woche lang keine Süßigkeiten bekommen. Dieser ganze Naschkram, den du dauernd futterst, macht dir noch die Zähne kaputt! Komm jetzt, ehe ich dich vor allen Leuten verhaue.«
    »Ich bringe sie hoch«, setzte Maxwell an, wurde aber von Pearl sogleich zum Schweigen gebracht.
    »Das wirst du nicht tun. Nur weil du sie dauernd verhätschelst, meint sie, sie kommt mit allem durch. Ich werde nicht zulassen, dass sie sich mir vor all meinen Gästen widersetzt!«
    Als sie Pearls Hand an ihrem Arm spürte, begann Thomasina zu strampeln. »Ich will nicht zurück nach oben! Sonst kommt der Geist und holt mich!«
    »Sei still, du böses Kind! Wenn dich irgendein Gespenst mitnehmen würde, wäre das eine

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