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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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gegen Ende der fünfziger Jahre wurden die leeren Grundstücke bebaut, und das muss architektonisch betrachtet, eine traurige Zeit gewesen sein. Denn trostlosere Häuser konnte es diesseits von Sibirien kaum geben.
    Hinter den Wohnzimmerfenstern dort unten schliefen die Fernsehschirme langsam ein. Das Abendprogramm war vorbei. Wie dunkle Wolken traten die Menschen an die Fenster und starrten hinaus. Kurz darauf gingen sie von Lichtquelle zu Lichtquelle und tauchten ihre Wohnzimmer in Dunkel. Nur hinter wenigen Fenstern blieb das Licht an, und ich konnte Menschen um einen Couchtisch herum sitzen sehen. Hinter einem Fenster wurde getanzt.
    Hinter dem verblassten Kupferturm der Nykirke entdeckte ich einen Stern. Die Luft war kalt und klar. Nur vereinzelte graue Nebelstreifen zogen über den Himmel, und die Sterne sendeten ihre stummen Blicksignale, in ihrem unverständlichen Morsecode.
    Das Summen aus dem Wohnzimmer hinter mir wurde einen Augenblick lang lauter, und jemand kam heraus. Ihre Stimme war genauso hell, wie ich sie in Erinnerung hatte, und sie sagte in abgeschliffenem Bergensisch: »Stehst du hier im Dunkeln – Varg?«
    Sie stellte sich an das Geländer neben mich und umfasste es mit ihren schmalen, weißen Händen. Dann sah sie zu mir auf und lächelte. »Hallo.«
    Mir fiel plötzlich auf, wie klein sie eigentlich war. Ich sagte: »Hallo.«
    Wir schwiegen. Sie starrte vor sich hin, als sei die trostlose Aussicht sehenswert. Ich sagte: »Wie geht es dir?«
    Sie biss sich auf die Lippen und zuckte mit den Schultern. »So lala.«
    »Es ist wohl schwer, darüber hinwegzukommen.«
    Sie nickte. »Es ist schwer. Wenn man einmal –« Sie beendete den Satz nicht, sondern atmete heftig ein.
    Ich sagte: »Ja.«
    »Hast du Reidar gesehen?«, fragte sie plötzlich.
    Ich nickte. »Gerade als ich reinkam. Er sprach über irgendeine frigide Frau. Und über Fiesta. «
    Sie lächelte bitter und sagte säuerlich: »Ja. Er hält sich auf beiden Gebieten für einen Experten.« Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Ein betrogener Ehemann kann ein sehr nachtragender Gegner sein, Varg.«
    »Ich weiß. Deshalb nehme ich solche Jobs nicht an.«
    Sie hörte nicht zu. »Ich – nach allem, was passiert ist – nachdem Reidar von – Jonas und mir erfuhr … Ich bin für ihn zu einer Frau ohne Rechte geworden, Varg. Er – er meint, irgendwie das Recht zu haben, sich zu rächen – er müsse sich rächen – und zu tun, was er will. Manchmal glaube ich fast, dass er dankbar ist, dass er es genießt, seine Freiheit zurückbekommen zu haben. Und ich, ich kann nicht einmal vor die Tür gehen, ohne mit misstrauischen Blicken empfangen zu werden, wenn ich wiederkomme. Verdient, vielleicht – aber trotzdem … Aber das Schlimmste daran, Varg: Er sagt kein Wort. Er hat nie etwas gesagt, nie mit einem Wort all das erwähnt …« Sie flüsterte: »Das ist – das ist fast nicht auszuhalten!«
    Ich sagte lakonisch: »Es ist vielleicht an der Zeit – aufzubrechen?«
    Sie sah mich an, und es funkelte tief in ihren Augen. »Ja! Wie oft habe ich das zu mir selbst gesagt, Varg! Aber da sind die Kinder. Ich denke immer an sie. Oh, es ist nicht leicht Kinder zu haben, Varg. Es ist nicht leicht, Eltern zu sein. Man weiß – irgendwie – nie – weiß nie, was das Beste für sie ist, oder?«
    »Ja«, sagte ich. »Man weiß nie. Aber vielleicht ist es gerade deshalb … Vielleicht sollte man in solchen Situationen trotzdem vor allem an sich selbst denken, wenn es darauf ankommt. Es ist trotz allem dein Leben, und du hast nur dieses eine.«
    »Ja. Schon. Und wie geht es dir – hast du nicht auch …«
    »Einen Sohn. Er wird acht.«
    Sie nickte. »Und – vermisst du ihn?«
    »Ich vermisse ihn, wenn er nicht da ist. Und ich vermisse ihn, wenn er da ist. Weil er nicht mehr derselbe ist. Nicht ganz. Er ist nicht mehr meiner, verstehst du, sondern meiner und ihrer und … Wir sind mehrere, und ich weiß noch nicht einmal, ob er mich besonders gern hat.«
    »Das hat er sicher. Das hat er, Varg.« Ihre Augen suchten meine Hände. »Und du hast – niemand anderen?«
    Ich schüttelte den Kopf und verzog die Lippen zu etwas, das sich wie der klägliche Rest eines Lächelns anfühlte. »Nein«, sagte ich, und meine Stimme klang heiser und fremd.
    »Ach, Varg«, sagte sie, und plötzlich hatte sie ihre Hand auf meine gelegt. Einen Augenblick drückte sie sie, dann war sie wieder verschwunden. Sie holte tief Luft. Unter ihrem Ohr sah ich den Puls schlagen.

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