Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Sie hatte ihr Gesicht abgewandt. Dann schaute sie mich wieder an, und ihr Lächeln war fast verzweifelt. »Ich finde, wir können so gut miteinander reden, Varg. Ich glaube, wir sollten uns irgendwann zu einem richtig langen Gespräch treffen, über einer Tasse Kaffee, findest du nicht?«
Ich sagte: »Das wäre bestimmt schön.« Dann fragte ich: »Soll ich – dich anrufen?«
Sie nickte schnell. Irgendetwas schien sie noch sagen zu wollen, aber plötzlich stand wieder jemand in der Türöffnung. Es war ihr Mann. Er sah misstrauisch von ihr zu mir. Dann sagte er kurz: »Wollen wir tanzen, Solveig?«
Die Frage hing in der Luft. Unten auf der Strandgate kreischten Bremsen, als hätte die Frage wehgetan. Ich hatte ein schweres, ziehendes Gefühl in der Brust.
Sie zuckte demonstrativ mit den Schultern und sagte: »Ja, gern.« Ohne ein Lächeln folgte sie ihm hinein. In der Türöffnung warf sie mir ein schnelles Lächeln zu. Dann war sie verschwunden.
Ich blieb mit dem Rücken zum Geländer stehen. Das Glas in meiner Hand fühlte sich kalt an. Durch das Wohnzimmerfenster konnte ich sie tanzen sehen, wie zwei unvereinbare Schatten, jeder in seinem Rhythmus, als folge einer der Sonne und die andere dem Mond.
Sie gingen relativ früh: entschuldigten sich damit, dass sie den Babysitter ablösen mussten. Deshalb konnte ich nicht weiter mit ihr sprechen. Paul Finckel lag mit dem Kopf auf dem Schoß einer blassen Blondine in einer hellroten Bluse. Seine Augen sahen über Kreuz, und er lallte von einer traurigen Kindheit und einer unglücklichen Jugend vor sich hin. Er war noch nicht bei seiner Ehe angekommen.
Die blasierten Lehrer waren inzwischen weniger blasiert und noch schwieriger zu ertragen. Ihre Schlipse hingen schief, und sie hatten die Westen ihrer Anzüge aufgeknöpft. Ihr dünnes Haar war zerzaust.
In einer Ecke hinter dem Sofa lagen ein Mann und eine Frau in enger Umarmung. Seine Hand arbeitete fleißig, aber mechanisch zwischen ihren Beinen, und nach dem Ausdruck ihrer Augen zu urteilen, hatte sie sehr wenig Freude daran. Überall auf dem Boden standen und lagen Menschen, Flaschen und Gläser.
Ich verließ den Ort des Geschehens in der ersten Stunde des Samstag. Die einzigen, die mich in die Stadt hinein begleiteten, waren eine Handvoll Nachtwanderer. Sogar die Sterne waren verschwunden. Der Himmel war wieder ganz grau geworden. Es sah nach Regen aus. Aus einem Hauseingang starrte mich ein magerer Mann mit großen, schwarzen Augen an, und unten am Strandkai bekam ich ein Sonderangebot von einer der flatterhaftesten Damen der Stadt. Viel zu preiswert, und ich ging davon aus, dass ihr Verfallsdatum längst überschritten war.
Also dachte ich gar nicht weiter über das Angebot nach. Zu Hause stand eine neue halbe Flasche und wartete, und irgendwo in mir trug ich die Knospen eines Traums.
23
Ein Kater ist wie ein ekliges Tier, das in einem wächst. Wenn man morgens aufwacht, liegt er mit aufgerissenem Maul bereit und atmet schlechten Atem in deinen Mund, während der räudige Schwanz langsam im unteren Teil deines Magens hin und her schlägt.
Thomas weckte mich, als er Samstagvormittag an meiner Tür klingelte. Er war jetzt schon ein großer Junge und musste nicht mehr abgeholt werden. Er kam an unseren Wochenenden pünktlich und pflichtbewusst, mit einem Ausdruck höflichen Überdrusses im Gesicht. Es fiel mir immer schwerer, in seinem Gesicht Züge von mir zu erkennen.
Ich taumelte aus dem Bett, warf mir meinen Morgenmantel über und stolperte zur Tür.
»Guten Morgen«, sagte er – und dann, in fast gekränktem Ton: »Bist du noch nicht aufgestanden?«
»Nein. Hallo«, sagte ich und trat zur Seite, sodass er hereinkommen konnte. Er trug einen leichten, dunkelblauen Hosenanzug, und sein rot-weiß-kariertes Hemd stand am Hals offen. Sein Haar war so blond und lang wie immer, und er hatte sich angewöhnt, seinen Kopf ein wenig nach hinten zu werfen, um den Pony aus den Augen zu schütteln.
»Möchtest du frühstücken?«, fragte ich, während der Kater sich in meinem Bauch wälzte.
»Nein danke. Ich habe schon gegessen.«
Ich hob die Hände und fragte: »Hast du was dagegen, wenn ich frühstücke?«
Er schüttelte den Kopf, aber der Kater hatte etwas dagegen. Er fauchte, und ich musste auf die Toilette gehen und den Kopf für einen Moment an die Wand lehnen.
Aber es war das einzige, was helfen würde: kalte Milch, dünner Tee und ein paar ordentliche Brote mit Gurken und Tomaten. Während ich das
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