Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
und wir gingen nach Hause. Thomas sollte bei mir übernachten und hatte Sorge, irgendein Fernsehprogramm zu verpassen.
Er schlief. Er hatte sich auf die Seite gelegt und zusammengefaltet, die Hände zwischen den Schenkeln verborgen, das Haar zerzaust auf meinem Kissen, die Bettdecke schon verrutscht über sich.
Sein Gesicht war weich, und ich fühlte, dass er mir jetzt vertrauter war. So kannte ich ihn aus den ersten Jahren, als ich spätabends nach Hause gekommen und es draußen dunkel war und ich mich über sein Kinderbett gebeugt hatte, so wie jetzt. Ich erinnerte mich noch genau an die Ruhe, die ich empfunden hatta, wenn ich mich über das schlafende Kind beugte, und dass ich gern dort geblieben wäre, im Halbdunkel bei ihm, wo eine kleine Lampe noch brannte, statt ins Wohnzimmer zu Beate zu gehen, die steif und angespannt auf einer Stuhlkante saß und auf mich wartete.
Ich legte mein Gesicht auf das Kissen neben seins, spürte den süßen Hauch aus seinem Mund, sah das fast unmerkliche Flimmern hinter seinen Augenlidern.
Ich war daran beteiligt gewesen, ihn zu machen. In einer warmen Frühlingsnacht, als der Mond stillstand und am Himmel über der Stadt den Atem anhielt, hatte ich ihn in sie hineingeliebt, und sie hatte ihn empfangen. An einem dunklen Märzabend im Jahr darauf, mit Schneetreiben und spiegelglatten Straßen, hatte sie im Mantel in der Tür gestanden, als ich nach Hause kam, und wir waren direkt in die Frauenklinik gefahren. In einem gemütlichen warmen Raum hatte ich gesehen, wie kundige Hände ihn aus ihr herauszogen. Sie hatte sich hin und her geworfen, als würde sie sich durch hohen Schnee durchkämpfen, hatte die Zähne gezeigt, und die Haut in ihrem Gesicht war rot und gespannt gewesen. Mit einem Schrei hatte er seinen Stempel in unsere Pässe gesetzt, sich zu einem gleichwertigen Familienmitglied erklärt und unserem Dasein eine neue Richtung gegeben.
Später war er mir entglitten, so wie auch Beate mir entglitten war. Jetzt war er ein Wochenendgast in meiner Wohnung, jemand, der in regelmäßigen Abständen routinemäßig und saisonabhängig meine Pension besuchte. Bald würde er ein junger Mann sein, und ich erkannte ihn nur noch wieder, wenn er schlief.
Vorsichtig küsste ich sein schlafendes Gesicht, spürte den süßlichen Duft seines Haares. Ich küsste vorsichtig seine weichen Lippen, die ich niemals mehr küssen durfte, wenn er wach war, und er verschwamm vor mir.
Er regte sich, hob eine Hand und kratzte sich an der Stirn. Ich stand auf und blieb neben dem Bett stehen. Als er wieder zur Ruhe gekommen war, ging ich vorsichtig aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
Ich selbst schlief im Wohnzimmer, auf dem Sofa.
Am Sonntag regnete es. Den ganzen Tag tropfte es ohne Unterlass von einem grauen, klatschnassen Himmel. Man konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals wieder blau werden würde. Wir zogen uns dem Wetter entsprechend an und fuhren in den Botanischen Garten. Thomas war in dem Alter, wo er jedes einzelne Schild lesen musste, also las er einen Pflanzennamen nach dem anderen, auf Norwegisch und Lateinisch, samt Verbreitung und Blütezeit, vom ersten bis zum letzten Buchstaben. Das dauerte lange, aber es war mir ganz recht. Es war schön im Wald, und der Regen ließ die Blätter für uns glänzen. Der Korsfjord lag grauweiß und glatt unter uns, und der Regen rauschte leicht im Blattwerk. Es duftete nass nach Juni.
Wieder zu Hause, beim Essen, sah er mir plötzlich in die Augen und sagte: »Hast du niemals Frauen zu Besuch, Papa?«
Ich schnitt mit stumpfem Messer das Schweineschnitzel auf meinem Teller, und es gelang mir nicht ganz, seinem Blick standzuhalten. »Doch. Manchmal schon. Warum fragst du?«
»Na ja, vielleicht würde es dir gut tun, eine Frau zu haben. Ich meine – wieder zu heiraten.« Er errötete plötzlich.
Ich sagte mild: »Wer sagt das? Deine Mutter?«
»Nein«, sagte er mit dünner Stimme. »Lasse.«
Ich nickte stumm und lächelte schief. Also Lasse meinte, es würde mir gut tun. Vielen Dank, Lasse – danke für all die guten Wünsche …
Gegen sieben fuhr ich ihn nach Hause. Ich ließ ihn an der Ecke Formannsvei und Uren raus, dort wo ein alter Baum mitten in der Straße stehen darf. »Mach’s gut!«, rief ich ihm hinterher.
Er winkte zurück und lief nach Hause.
Nach Hause. Dorthin, wo ich nicht war; wo Lasse und Beate waren. Nach Hause zu Lasse und Beate. Ich ließ mir die Worte auf der Zunge zergehen.
Direkt in meine
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