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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Frühstück richtete, fragte er: »Hast du eine Zeitung?«
    Ich sah ihn an, irgendwie unsicher. Mein Sohn hatte begonnen, Zeitung zu lesen.
    »Nur die von gestern«, sagte ich. »Sieh mal in der Stube nach.«
    Er kam mit einer Osloer Zeitung zurück und blätterte zu den Sportseiten. Eine ganze Weile war er darin vertieft. Ich betrachtete ihn. Er hatte eine kleine, waagerechte Falte zwischen den Brauen, aber die hatte er von seiner Mutter. Er hatte einen sensiblen, schönen Mund: von seiner Mutter. Und seine Augen waren dunkler geworden, fast kornblumenblau – wie die seiner Mutter. Das Haar hatte er von keinem von uns, aber das verständige, altkluge Wesen – das hatte er von Studienrat Wiik, Beates neuem Mann.
    Es war kein schönes Gefühl, zu sehen, wie das Gesicht meines Kindes langsam von jemand anderem erobert wurde. Ich wandte mich ab.
    Mit dem Rücken zu ihm sagte ich: »Wie geht es dir, Thomas?«
    »Gut.«
    »Und in der Schule?«
    »Mmmh?«
    »In der Schule?«
    »Gut.«
    Ich setzte mich an den Tisch, trank langsam meinen Tee und aß kleine, leicht verdauliche Bissen Brot. Er saß mir gegenüber. In meinem Bauch kratzte der Kater mit stumpfen Krallen an meiner Magenwand. Ihm gefiel das Essen nicht.
    Ich sagte: »Was wollen wir heute machen?«
    »Das kannst du bestimmen.«
    Ich brauchte frische Luft, Mengen von frischer Luft. Also sagte ich: »Wollen wir eine Runde auf den Fløien laufen? Vielleicht finden wir heute Kaulquappen.«
    Er lächelte höflich. »Ja, das können wir machen.« Dann faltete er die Zeitung zusammen und sagte erwachsen: »Ich glaube, Brann steigt dieses Jahr ab.«
    Ich lächelte breit, mit Brotkrümeln in den Mundwinkeln. »Das glaube ich auch, Thomas. Das glaube ich wirklich!«
    Dann gingen wir auf den Fløien und sprachen über Brann.
     
    Der Sommer war in diesem Jahr spät in Gang gekommen. Noch weit bis in den Mai hinein hatte auf den Bergen um die Stadt herum Schnee gelegen, und man konnte es an der Vegetation erkennen, dass etwas nicht stimmte. Das Gras des letzten Jahres lag noch in gelben, verblichenen Büscheln da. Nur die widerstandsfähigsten Blumen hatten ihre Köpfe aus der Erde gestreckt, und die Bäume hatten immer noch grauschwarz und kahl ausgesehen wie zum Frühlingsanfang. Die Luft war kalt und feucht, und die Wolkendecke hing wie ein graues Segeltuch über uns, das sicher bald aufreißen würde.
    Oben bei der Brushytte fanden wir in einem kleinen Teich Kaulquappen. Wenn wir auf die flachen Steine am Ufer traten, schossen sie wie schwarze Luftblasen aus dem Wasser. Thomas bekam einen interessierten Gesichtsausdruck, und während er in der Hocke saß und den kleinen Kaulquappen mit den Blicken folgte, suchte ich mir einen Stein, auf den ich mich setzen konnte, und schälte eine Apfelsine. Ich teilte sie in zwei und fragte, ob er etwas haben wollte. Er kam zu mir und nahm seine Hälfte. Einen Moment berührten sich unsere Finger, und er sagte: »Danke.« Ich streckte die Hand nach ihm aus, um ihm auf die Schulter zu klopfen, aber er war schon wieder auf dem Weg zu den Kaulquappen. Er bewegte sich flink, wie es kleine Jungen eben tun. Kurz darauf begann es zu regnen.
     
    Nachdem wir in einer Cafeteria gegessen hatten, gingen wir nach Nordnes, um uns das Buekorps anzusehen. Bei der Nykirke sah ich schräg zu dem Haus hinüber, in dem Paul Finckel wohnte. Die Tür zum Balkon stand noch immer offen. Sonst gab es kein Zeichen von Leben. Der Vorabend schien eine Ewigkeit her zu sein, und das Gespräch mit Solveig Manger kam mir vor wie ein Traum.
    Zwischen den Häusern in Bretterne, dort wo die Akustik am besten ist, begegneten wir der Schlagertruppe des Buekorps, und draußen im Park stießen wir auf einen Trupp, der exerzierte. Es regnete immer noch, und das Wasser legte sich wie ein nasser Schleier auf die kleinen Kindersoldaten. Unter ihren Nasen sammelten sich Tropfen, und man konnte sehen, wie ihre Schuhe den Regen aufsogen.
    Wir standen mit dem Rücken zum Sjøbad, das bei diesem Wetter wie ausgestorben war. Auf ein paar Bänken saßen alte Menschen und sahen dem Buekorps zu, so wie sie es seit einem halben Jahrhundert getan hatten. Der alte Buekorpsjunge auf der Bank machte ein paar Bewegungen mit dem Spazierstock, um zu zeigen, was der diesjährige Nachkomme für Fehler machte, und die Kleinen in den Uniformen versuchten noch einmal, es richtig zu machen. Aber sie waren irgendwie zu klein, und die Beine waren viel zu schwer zu steuern.
    Am Ende wurde es zu kalt,

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