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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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und mit einer vor unterdrückter Wut gepressten Stimme sagte: »Natürlich. Es gibt tatsächlich kaum einen Mitarbeiter meines Mannes, mit dem ich nicht geschlafen habe.«
    Dann kam sie schnell auf mich zu und schlug mir hart mit dem Handrücken ins Gesicht. Ein Ring zerkratzte meine Haut, und ihre Knöchel fühlten sich an wie eine Hand voll kleiner Steine, eingepackt in Seidenpapier. Danach brach sie in heftiges Weinen aus. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte mit gedehnten, schmerzhaften, kehligen Lauten.
    Ich streckte eine Hand vorsichtig in die Luft aus, hielt aber inne, bevor sie sie berührte. Der untere Teil meiner Wange brannte von ihrem Schlag, und ich spürte, dass mein Gesicht starr geworden war.
    »Danke«, sagte ich mit belegter Stimme, drehte mich um, ging die Treppe hinunter durch die dunkle, mit Teppich ausgelegte Halle und aus dem Haus. Das Tageslicht stach mir in die Augen, der Rasen wirkte ungesund grün und der Himmel war blass.

28
    Ich fuhr zurück in die Stadt. Es dauerte zwanzig Minuten, bis ich einen freien Parkplatz gefunden hatte, auf dem ich eine halbe Stunde stehen bleiben konnte.
    Ich nahm den Fahrstuhl zu meinem Büro im dritten Stock. Auf dem verstaubten Flur gellte ein Zahnarztbohrer, und eine Frau in einem lila Mantel kam aus dem Wartezimmer. Sie sah weg, als sie an mir vorbeikam.
    Ich ging in mein eigenes Wartezimmer, das – nicht unerwartet – leer war wie ein Pfadfinderehrenwort nach zehn Jahren. Ich schloss mein Büro auf, hängte meine Jacke an den dunkelgrünen Kleiderständer, den einzigen Farbfleck im Büro neben dem blassen Kalender an der Wand. Ich setzte mich an den Schreibtisch und fragte mich, was ich nun anfangen sollte.
    Ich dachte an Peter Werner.
    Ich kannte ihn nicht, und sein Bild erschien mir noch immer verschwommen und gesichtslos. Ich bekam ihn nicht zu fassen, und nichts von dem, was ich bis jetzt über ihn wusste, deutete notwendigerweise darauf hin, dass er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eines so gewaltsamen Todes sterben würde. Untreue – na gut. Drogenmissbrauch – okay. Erpressung – tja … Aber wenn ich seine Stimme nicht hören konnte, mich nicht entscheiden konnte, ob ich ihn mochte oder nicht, war es schwierig, sich vorzustellen, warum er – auf diese Weise sterben musste. Geschlachtet wie ein Fisch, aufgeschnitten wie eine Stoffpuppe.
     
    Ich rief bei der Zeitung an und fragte nach Ove Haugland. Er war unterwegs. Ich hinterließ meine Telefonnummer und sagte, er könne versuchen, anzurufen, wenn er früh genug zurückkäme.
    Vor meinen Fenstern war blasser Juni. Die Leute hätten eigentlich in kurzärmelige Hemden gekleidet sein sollen, in T-Shirts und Blusen, die am Hals offen waren, in leichte, flatternde Röcke und Sandalen. Stattdessen trugen sie hochgeschlagene Jackenkragen, gingen mit gesenktem Kopf im scharfen Wind, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und mit verbissenen, verkniffenen Wintergesichtern. Es war ein langer, langer Winter gewesen. Zwei Frühlingstage hatten wir gehabt, und alle Zeichen des Himmels deuteten darauf hin, dass der Sommer schon vorbei war und uns als ein Wochenende und ein paar Tage um Pfingsten herum in Erinnerung bleiben würde. Es war Juni, aber in der Luft lag schon September.
    Das Telefon klingelte.
    Ich nahm den Hörer ab und erwartete, Hauglands Stimme zu hören. Stattdessen war es eine Frau. Ich konnte sie nicht sofort einordnen.
    »Veum? Hallo?«
    »Ja? Ich bin am Apparat.«
    »Oh, ich wollte fragen, ich würde so gern kurz mit Ihnen reden. Ich – hier ist Vera Werner … Peters Mutter.«
    Ich antwortete nicht sofort. Ich sah sie vor mir, wie sie ein paar Tage zuvor in Ingelins Zimmer gestanden hatte, völlig am Ende durch den Schock nach dem allzu frühen und allzu brutalen Tod ihres Sohnes. Ihr aufgedrehtes, angstverzerrtes Gesicht …
    Sie sagte: »Veum? Sind Sie noch da?«
    Ich räusperte mich. »Ja. Wann würden Sie denn – sind Sie zu Hause?«
    »Nein. Ich – Håkon darf nicht wissen … Ich bin in der Stadt, in einer Telefonzelle am Postgebäude. Ich – kann ich zu Ihnen raufkommen – in Ihr Büro? Ich habe die Adresse im Telefonbuch gefunden …«
    »Tja. Okay. Kommen Sie ruhig rauf. Ich habe Zeit.« Als hätte ich jemals keine.
    »Ja, es ist nämlich – wichtig.«
    »Gut, gut. Wir reden darüber, wenn Sie hier sind, okay? Bis gleich.«
    »Auf Wiedersehen«, sagte sie.
    Auf Wiedersehen? Dachte ich. Auf Wiedersehen? Vielleicht sollte ich ihr

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