Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
entgegengehen. Vielleicht brauchte sie Hilfe, wirkliche Hilfe. Ich konnte kaum etwas anderes tun, als was ich immer tat. Zuhören, verständnisvoll nicken, sie leicht besorgt ansehen, lächeln, wenn sie es brauchte, bedauernd schnalzen, wenn sie das brauchte … Der aufmerksame Veum, die Zuhörstation.
Die Luft im Büro war dick und stickig von wochenlanger Tatenlosigkeit. Ich ging zum Fenster und stellte es auf Kipp. Der Stadtlärm strömte herein wie eine Horde Schulkinder am letzten Schultag vor den Sommerferien. Aber die kleine Öffnung brachte jedenfalls etwas frische Luft, lüpfte das Laken ein wenig.
Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch und wartete.
Fünf Minuten später war sie da. Ich hörte, wie die Tür zum Wartezimmer vorsichtig geöffnet wurde und ging zur Zwischentür, um sie zu empfangen.
Freundlich wie ein Bestattungsunternehmer führte ich sie ins Büro und zeigte ihr den Stuhl, auf den sie sich setzen durfte.
Hinter der Tür blieb sie stehen und sah sich um, wie ein General, der seine Truppen mustert. Sie sah mit scharfem Blick das leicht verstaubte Ambiente, und ich sah, wie sie in Gedanken mit einem spitzen Finger über meine Schreibtischplatte fuhr, ihn vor die Augen hob und missbilligend betrachtete.
Ich sagte: »Wollen Sie sich nicht setzen?«
Sie betrachtete den Stuhl mit deutlicher Unlust. Dann sagte sie resigniert: »Doch, danke.«
Sie hatte ein schwarzes Kostüm an, das sehr elegant war, obwohl es über der Brust und den Hüften spannte. Dazu trug sie einen schwarzen, flachen Hut mit einem Schleier, der die Augen bedeckte. Ohne es zu wissen, oder vielleicht ganz bewusst, war sie vollkommen nach der momentanen Pariser Mode gekleidet.
Ihr Gesicht hatte noch immer etwas Aufgedunsenes, von Trauer gezeichnetes, aber sie hatte es gepudert, diskrete Linien nachgezeichnet, ihm seine Konturen ein Stück weit zurückgegeben. Aber ihre Augen waren glasig, und die Pupillen sehr klein. Sie sagte: »Haben Sie – ein Glas Wasser?«
Ich stand auf und ging zum Waschbecken in der Ecke. Ich fand ein Glas im Regal darüber, sah zur Seite, um mir nicht selbst im Spiegel zu begegnen und spülte das Glas mit warmem Wasser aus, bevor ich kaltes hineinlaufen ließ. Dann brachte ich es ihr, und sie griff es mit beiden Händen.
Dann stellte sie das Glas am Rand der Schreibtischplatte ab, holte eine Pillendose aus einer flachen, kleinen Handtasche, die nicht aussah, als hätte viel mehr als eine Busfahrkarte darin Platz. Sie schluckte zwei längliche Pillen mit zwei Schlucken Wasser, verdrehte leicht die Augen, trocknete sich die Lippen mit einem Miniaturspitzentaschentuch, legte die Pillendose wieder in die Tasche, ohne mir zu erzählen, wogegen die Pillen ihr helfen sollten – vielleicht waren sie gegen Privatdetektive – und richtete ihre Aufmerksamkeit endlich auf mich, der ich mich längst wieder hinter dem Schreibtisch installiert hatte, die Hände hübsch gefaltet, meine blauen Augen erwartungsvoll auf sie gerichtet.
Ich sagte: »Sie wollten mir etwas Wichtiges erzählen …«
Sie presste die Lippen zusammen, als hätte das Wichtige Schwierigkeiten, herauszukommen. »Ja«, sagte sie mit dünner Stimme.
Ihr Blick suchte das Fenster und die Berge auf der anderen Seite von Vågen, die Feuerwache in Skansen, die Häuser am Berghang … Er wanderte durch die ganze beruhigende alltägliche Aussicht, die alle meine Klienten lieber anschauen als mich. Und das wundert mich nicht. Es gibt Dinge, die man lieber einer Aussicht erzählt, als einem anderen Menschen.
Sie sagte: »Ich wollte Ihnen erzählen …«
Da der Fløien darauf nicht reagierte, wandte sie ihren Blick wieder mir zu. »Ich will mich nicht rechtfertigen – ich will nur, dass Sie verstehen … was Sie vor ein paar Tagen gehört haben.«
Ich nickte. Es war so vieles, was ich vor ein paar Tagen gehört hatte, aber ich ging davon aus, dass sie mit der Zeit konkreter werden würde.
Sie sagte: »Sie haben es vielleicht merkwürdig gefunden … Sie fanden vielleicht, dass ich zu heftig reagiere oder reagiert habe, weil es zwischen – weil zwischen Peter und Lisa etwas war, damals. Später. Weil – wegen des Altersunterschieds zwischen ihnen, nicht wahr?«
Ich nickte wieder. Sie war schon dabei, konkreter zu werden. Ich sagte: »Ja, vielleicht. Aber es ist nicht immer so leicht – zu verstehen. Es sind anderer Leute Kinder, nicht meine eigenen. Es ist immer leichter, das Leben anderer Eltern zu beurteilen, als sein
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