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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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in ihrem Inneren nach Worten suchte, Worten, die sie zu sich selbst gesagt hatte, die sie sich selbst gegenüber gebraucht hatte – um zu erklären, wenn nicht anderen, dann jedenfalls sich selbst. Ich hatte schon früher Menschen in solchen Situationen gegenübergesessen. Ich wusste, dass für alle Menschen ein Tag kommt, an dem es gut ist, jemanden zu haben, mit dem man reden kann, egal, wer es ist, und wenn es nur der gute, alte Trottel Veum ist.
    Gesichter ohne Maske sind faszinierend. Eine Maske kann hübsch oder auch schön und anziehend sein, aber sie hat immer einen Schimmer von Kälte um sich. Wenn man zu den wirklichen Gesichtern der Menschen vordringt, findet man wirkliche Schönheit: die grausame Wirklichkeit, Hässlichkeit, Pathos, Verwirrung, alle Sorgen, Ängste und Freuden, all das Verwirrende, das ein Gesicht zeichnet, mit seinen Falten und Narben, seinen inneren und äußeren Wunden – all seine unbeschreibliche, eigentliche Schönheit. Ich saß wartend da und betrachtete Irene Jonassens Gesicht. Jetzt konnte ich sie sehen, die eigentliche Irene, ohne Jonassen, bevor sie Jonassens Frau wurde, das Mädchen Irene, das weinend auf einem Bürgersteig gestanden hatte, weil ihm jemand seine Puppe weggenommen hatte, das Mädchen Irene, das zum Direktor geschickt worden war, weil sie eines der anderen Mädchen mitten in der Rechenstunde an den Haaren gezogen hatte, das Mädchen Irene, das plötzlich gemerkt hatte, dass sie ihr erstes Mal für etwas vergeudet hatte, das eher an Vergewaltigung als an Liebe erinnerte – die unendlich vielen Irenes – und doch nur die eine.
    Als hätte sie endlich einen ernsten Beschluss gefasst, sagte sie: »Es war nicht nur Peter. Er war nur einer von vielen. Er bedeutete mir also nicht besonders viel. Deshalb habe ich gesagt, dass ich nicht … Ich meine, ich hatte keine Beziehung mit ihm, Veum. Ich habe ihn nicht geliebt. Ich war nicht einmal in ihn verliebt. Ich habe ein paar Mal mit ihm geschlafen. Und besonders gut war er auch nicht. Ich kann mich kaum mehr – daran erinnern. Und es ist so lange her, also … Ich hätte es sein können, ja, vor einem halben Jahr. Aber nicht an dem Ort.« Heftig sagte sie: »Ich bin keine gewöhnliche Hure, Veum! Ich tue es nicht – in Hotels!«
    Ich öffnete den Mund, aber sie würgte mich ab. »Ich – du musst immer die Ehe betrachten, die Ehe, in der die Leute – in der ich lebe, bevor du ein Urteil fällst.«
    »Das weiß ich, Irene.«
    Sie sah mich verdutzt an. »Wirklich?« Dann konzentrierte sie sich wieder. »Ja, vielleicht – du hast sicher auch – so einiges gesehen. Aber du musst mich verstehen. Meine Ehe mit Arve, die ist – eher geschäftsmäßig. Wir haben keine Kinder.«
    Sie wartete auf meine rhetorische Frage: Soll das heißen, dass …?
    »Die meisten gescheiterten Ehen werden gerade mit Rücksicht auf die Kinder aufrechterhalten, stimmt’s?«, sagte sie.
    »Doch, das stimmt.«
    »Aber bei uns ist es genau umgekehrt. Wir wohnen weiterhin zusammen, weil wir keine Kinder haben. Wenn ich Kinder hätte, würde ich niemals in dieser Gefühlskälte, in diesem tristen Haus bleiben – in dieser Atmosphäre von – Gott weiß was – vergeudetem Leben vielleicht.«
    Ich sah mich noch einmal im Raum um. Eines war jedenfalls richtig, in diesem abgesenkten, topmodischen Salon gab es keine Wärme.
    »Aber da wir nun einmal keine Kinder haben – können wir ebenso gut miteinander leben wie mit irgendjemand anderem. Wir haben uns – auf eine Weise – aneinander gewöhnt. Wir haben uns an einen Lebensstil gewöhnt, an ein soziales Niveau, an einen Umgangskreis, der – tja, es würde uns einiges kosten, das zu verändern. Und wenn man über …« Sie zögerte. »Ja. Also – über vierzig ist, dann – dann kostet es einen einiges – etwas zu verändern. Du bist vielleicht zu jung, um das zu verstehen, aber …«
    Wie bitte? Du bist vielleicht zu jung, Veum? Du siebenunddreißigjähriger Jüngling, du bist vielleicht zu jung, Varg! Ich war entgeistert.
    »Es war Arve, der … Er konnte keine Kinder bekommen. Und ich – es war eigentlich auch egal.« Aber das letzte sagte sie mit einer Kälte, die deutlich zeigte, dass sie die Grenze zwischen Wahrheit und Illusion wieder überschritten hatte.
    Ich sagte: »Ja, es kann schon schwierig genug sein, mit Kindern zusammenzuleben.«
    »Ich hätte es nie gewagt, glaube ich. Das sage ich mir jedenfalls heute. Tröste mich vielleicht damit, Veum – das sollte ich wohl ehrlich

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