Dornroeschenmord
Wechseljahren war.
Mandy setzte sich an den Schreibtisch und öffnete die Mappe mit den Unterlagen zu Richard Grasser. Haufenweise Fotos. Grasser als dickes Baby, Grasser bei der Erstkommunion als pausbäckiger Bub mit pomadeverschmierten Haaren. Dahinter Grasser als etwas schlankerer junger Mann beim Fußballspielen, später bei einem Motorradrennen. Grasser im weißen Arztkittel und dann im Bühnenkostüm des Sir John Falstaff. Sehr eindrucksvoll.
Die Fotos waren allesamt ordentlich beschriftet. Für einen Mann von dreiundfünfzig Jahren war die Schrift außergewöhnlich kindlich. »Ich mit meinem ersten Motorrad«, las Mandy. Auf einem Bild, das Grasser mit einem Pokal und Schärpe zeigte, stand: »Der Sieger.« Mit Hilfe der Fotos konnte sich Mandy ein Bild vom Äußeren des Mannes machen, aber die Set-Card, die sie unter dem Bilderstapel fand, war in ihren Augen der eigentliche Schlüssel zu Grassers Persönlichkeit. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie allerdings noch keine Ahnung, welche Abgründe hinter den dicken schwarzen Lettern verborgen lagen: »Träume brauchen Wirklichkeit.«
Auch auf den glänzenden Seiten des Faltblatts war der Mann in verschiedenen Posen abgebildet. Und wieder war jedes Bild mit einer eigenen Überschrift versehen: »Der Magier«, »Der Philosoph«, »Der Arzt«, »Der Okkultist«, »Der Schauspieler«. Daß der Mann dabei immer von sich in der dritten Person sprach, ließ Mandy stutzen. Als hätte er sich von seinem eigentlichen Ich gelöst, um sich dann wieder neu zu erschaffen.
Das schriftliche Material war dürftig. Außer einem Lebenslauf fanden sich nur ein paar Zeitungsausschnitte. Immerhin war seine außergewöhnliche Lebensgeschichte schon in renommierten Blättern gedruckt worden. Mandy legte das Band mit der ungeschnittenen Fassung des Filmmaterials in den Videorecorder. Zum erstenmal hatte sie die Gelegenheit, einen Blick auf den Privatmann Grasser zu werfen: mit Freunden beim gemeinsamen Essen und beim Reiten. Die nächste Szene präsentierte ihn als Arzt in seiner Praxis, und schließlich sah man ihn in ölverschmierter Montur beim Reparieren seines Motorrads. Er wirkte etwas poltrig, hatte fast immer ein gutmütiges Grinsen im Gesicht und schien vor gesundem Selbstbewußtsein nur so zu strotzen. Ein imaginäres »Mir kann keiner was« schien ihm auf die Stirn geschrieben. In allen Szenen agierte er wie ein Schauspieler, der sich des Beifalls seines Publikums vollkommen sicher war.
Mandy fiel es schwer zu glauben, daß Grasser ein Hochstapler sein sollte. Er wirkte so rechtschaffen wie die Erde unter seinen Füßen. Nicht nur ihre Neugier, sondern auch ihre Zweifel wuchsen.
6
Und selig will er sich erheben,
um mit der Dame fortzuschweben.
WILHELM BUSCH
Kaum hatte Mandy die Akte Grasser geschlossen und ganz unten in der Schublade verstaut, klappte in ihrem Kopf die Akte Edward auf. Mit Erstaunen registrierte sie, daß sie – zumindest im Moment – nicht gerade unglücklich war. Warum auch, dachte sie und klopfte sich innerlich auf die Schulter, schließlich war sie doch diejenige gewesen, die Edward heroisch die Tür gewiesen hatte.
Ganz zweifellos war sie eine Frau der Tat. Und obendrein würde sie von nun an unabhängig sein. Dieser Gedanke gefiel ihr ganz besonders, und sie fand, daß er eine Bekräftigung verdiente. Angestrengt dachte sie nach. Die Zeit, in der sie Mitglied einer Laien-Schauspielgruppe gewesen war, lag lange zurück, dennoch verlangte ihr angeborener Hang zur Dramatik nach einer symbolischen Geste.
Ein eigener Staubsauger! Sie würde ihn zu ihrer ganz persönlichen Freiheitsstatue erheben, mit ihm würde ihr neues Leben beginnen. Wer brauchte schon einen Edward? Und vor allem: Wer brauchte seinen Staubsauger? Unabhängigkeit in jeder Beziehung, das war es doch, wonach sie strebte. Gleich jetzt wollte sie damit beginnen, und Dorothee würde ihre Begleiterin sein.
Punkt vier Uhr stand die Freundin vor ihrer Tür. Mandys Wunsch hatte ihr zwar ein Lächeln entlockt, aber als beste Freundin würde sie ihr in dieser existentiellen Angelegenheit selbstverständlich beratend zur Seite stehen.
Auf dem Parkplatz vor dem Kaufhaus ging es zu wie bei einem Single-Dinner am Samstagabend: Jeder suchte verzweifelt einen Platz zum Landen. Dorothee saß angespannt am Steuer, und ihre kleinen Hände umkrampften das Lenkrad so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. Sobald es darum ging, ein Auto rückwärts einzuparken, verließ sie ihre
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