Dornroeschenmord
ab.
Zögernd wählte Edward von Habeisberg die Nummer einer New Yorker Anwaltskanzlei. Obwohl er in den vergangenen Tagen an der Richtigkeit seines Entschlusses gezweifelt hatte, war er sich darüber im klaren, daß es nur einen Weg gab, seiner Angst Herr zu werden: Er mußte sich der Wahrheit stellen.
Auf der Rückseite jenes vergilbten Fotos mit dem Mann, dem er so ähnlich sah, hatte er den verblichenen Stempelabdruck eines New Yorker Fotostudios gefunden. Und die Frage, wer dieser Mann war und warum Gwendolyn seine Fotografie über Jahrzehnte vor ihm geheimgehalten hatte, war immer drängender geworden.
Am anderen Ende der Leitung meldete sich David Becker. Sie hatten zusammen studiert und über die Jahre den Kontakt aufrechterhalten, obwohl David gleich nach dem Studium von einer renommierten New Yorker Kanzlei für internationales Medienrecht engagiert worden war.
David versprach, nach dem Fotostudio zu forschen, bezweifelte allerdings, ob es überhaupt noch existierte. Und wenn, würde es überhaupt einen Hinweis auf die Identität des abgebildeten Mannes geben? Schließlich war das Foto fast vierzig Jahre alt.
Es war sieben Uhr abends. Schweren Herzens hatte Mandy Fredericks Einladung zum Essen abgelehnt. Statt dessen stand sie – eine Wollmütze tief ins Gesicht gezogen – mit ihrem Wagen im Schutz der Dunkelheit vor Grassers Haus.
Gegen halb neun wurde ihre Geduld belohnt, die Haustür öffnete sich, und Grasser trat mit behäbigem Schritt, seinen Pudel an der Leine führend, heraus. Gemächlich führte er den Hund über den Grünstreifen und verschwand hinter der nächsten Häuserecke. Mandy wußte: in exakt einer Stunde würde er zurückkommen. Schließlich hatte sie an den drei vorangegangenen Abenden dieselbe Szene um dieselbe Zeit beobachtet. Mephistos Verdauungsapparat funktionierte auf die Minute, und das Gassigehen war ein zeitlich festgesetztes Ritual.
Heute, am vierten Abend, traute sie sich zu, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Von Kopf bis Fuß in tarnendes Schwarz gewandet, huschte sie auf Gummisohlen über die Straße. Die Gartenpforte war nur angelehnt. Sie sah sich noch einmal um und huschte durch den Vorgarten.
Vor der Haustür zog sie einen Dietrich aus dem Werkzeuggürtel, den sie unter ihrem Pullover trug, und verschaffte sich in Sekundenschnelle Zutritt. Das Haus strahlte Leere und Verlassenheit aus. Mandy stieg die Stufen in die obere Etage hinauf, wo sie Grassers Wohnräume vermutete. Richtig: hier befanden sich das Schlafzimmer, ein dunkel getäfeltes Wohnzimmer und eine geräumige Küche. Gründlich durchstöberte Mandy jeden Schrank, jede Schublade, jedes Regal. Aber es fand sich kein einziger brauchbarer Hinweis auf die Identität des Mannes. Es hatte den Anschein, als sei Grasser Gast in seinem eigenen Haus.
Mandy ging wieder ins Erdgeschoß und steuerte auf Grassers Sprechzimmer zu. Dort fiel ihr Blick auf den Anrufbeantworter. Zögernd streckte Mandy die Hand aus und spielte das Band ab. Eine Patientin fragte nach einem Termin, eine Schreinerei teilte mit, daß der Schrank repariert worden sei, und ein pharmazeutisches Unternehmen gab einen Liefertermin für Medikamente bekannt. Enttäuscht über so viel Nichtssagendes stieß Mandy einen tiefen Seufzer aus. Doch dann erklang eine sonore Stimme:
»Guten Tag, Herr Kollege. Lehmann hier, Psychiatrische Klinik, Gabersee. Es geht um Ihren letzten Aufenthalt bei uns. Es gäbe da noch einige Fragen bezüglich der Abrechnung mit Ihrer Krankenkasse. Bitte rufen Sie mich doch zurück.«
Mandy starrte auf das Gerät, das keine Scheu kannte, ihr, einer Fremden, solche Vertraulichkeiten preiszugeben. Grasser war Patient einer psychiatrischen Klinik! Ja, mehr noch: Seine Erkrankung war offenbar so schwer, daß sie stationär behandelt werden mußte. Wer war dieser Mann wirklich?
Aus dem Flur tönte das Schlagen einer Uhr. Nervös blickte Mandy auf das Zifferblatt. Es blieben ihr noch dreißig Minuten, um sich mit den Dateien von Grassers Computer zu beschäftigen. Ähnlich wie seine Schränke und Schubladen enthielten auch die elektronischen Ordner nichts Persönliches. Das Datenblatt von Mona Krug in der Krankendatei war vor knapp zwei Monaten gelöscht worden. Seltsamerweise genau am 24. August, einen Tag nach ihrem Tod.
Mandy wollte den Computer herunterfahren und drückte in der Eile eine falsche Tastenkombination. Aus dem Innern des Computers ertönte ein hallender Gong, und auf dem Bildschirm erschien in einer
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