Dornroeschenmord
Plötzlich merkt man, daß man gar nicht so unverwundbar ist, wie man geglaubt hat.« Sie strich mit einer sanften Bewegung über seine Wange. Dann fuhr sie fort:
»Es ist der Moment, in dem sich die Angst ins Leben schleicht und die sorgsam gehüteten Ideale der Ernüchterung weichen. Im allgemeinen nennt man diesen Prozeß ›Erwachsenwerden‹. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum diese Phase des Lebens als so erstrebenswert gilt. Besser über die Dinge Bescheid zu wissen macht sie nicht einfacher. Sie verlieren nur ihren Zauber.« Ihr Gesicht war völlig unbewegt, aber ihre Augen leuchteten. Dann sagte sie übergangslos: »Dann bekam ich dich, und du warst das Geschenk für meinen Verzicht.«
Edward griff verlegen nach einem Glas Wein. Die Ehrlichkeit seiner Mutter rührte ihn. Trotzdem erschien ihm alles, was sie sagte, verworren, und er wußte nicht, wie er reagieren sollte. Noch nie hatte sie ihm gestattet, ihr so nah zu kommen. Er spürte, daß es sie drängte, ihm die Wahrheit über sich mitzuteilen. Er blickte sie von der Seite an und streichelte ihr unbeholfen über den Handrücken.
»Es macht mich sehr froh, daß ich dir das alles sagen konnte.« Gwendolyn lächelte, aber in ihren Augen schimmerte ein Anflug von Resignation und Bitternis.
Als sie das Zimmer verließ, knisterte die Seide ihres Kleides, und Edward fühlte sich wieder in jene Tage zurückversetzt, als er noch ein kleiner Junge war und bei jeder Gelegenheit seinen Kopf im Rock der Mutter versteckt hatte.
Für einen Moment blieb er nachdenklich in seinem Sessel sitzen, dann stand er auf und löschte die Kerzen. Sobald er das grelle Licht der Deckenlampe einschaltete, verschwand der Zauber der vergangenen Minuten mit der Geschwindigkeit eines Wimpernschlags ins Nichts.
Er räumte die Gläser vom Tisch, und sein Blick fiel auf ein Kästchen aus Zedernholz, das er bisher noch nie gesehen hatte. Neugierig öffnete er den Deckel: ein Stapel Postkarten, deren Schrift schon verblaßt war. Darunter kam eine vergilbte Fotografie zum Vorschein, die einen Mann in einem altmodischen Anzug zeigte. Edward jagte ein Schauer über den Rücken. Der Mann auf dem Foto war er selbst.
15
Meine Seele ist vielleicht grad und gut;
aber mein Herz, mein verborgenes Blut,
all das, was mir wehe thut,
kann sie nicht aufrecht tragen.
RAINER MARIA RILKE
Unablässig spuckte die Drehtür des Glasfassadenturms am Rosenkavalierplatz Männer und Frauen aus. Dicht aneinandergeschmiegt folgten Mandy und Frederick dem Menschenstrom. Ihre Gelassenheit nahm sich neben der Hektik der anderen geradezu unverschämt aus.
Der Himmel leuchtete in strahlendem Blau. Frederick war schon am Morgen auf die Idee gekommen, am Nachmittag segeln zu gehen, und hatte Mandy überredet mitzukommen. Sie warf ihm einen verliebten Blick zu und dachte daran, wie gut es doch war, daß sie sich durch ihre berufliche Unabhängigkeit einen winzigen Zipfel von Luxus gesichert hatte: Sie konnte frei über ihre Zeit verfügen.
Auf der Straßenseite gegenüber verfolgte die Person jede Bewegung der beiden. Kalte Augen registrierten, wie das Paar in Fredericks Cabrio stieg. Und am Ende büßt doch jeder.
Wenig später trieb ein Segelboot lautlos auf der gekräuselten Oberfläche des Starnberger Sees. Mandy hatte sich von der trägen Stimmung des Augenblicks anstecken lassen und ließ ihre Hand versonnen durchs Wasser gleiten. In ihrem weißen Wollpulli und der blauen Baseball-Kappe auf dem Kopf erinnerte sie von weitem an einen hochgewachsenen Schiffsjungen.
Als Frederick ihr etwas zurief, wandte sie den Kopf und tippte sich lachend an die Stirn. Er beugte sich zu ihr, griff nach ihrem Arm und zog sie mit einem Ruck an sich. Spielerisch wehrte sie ihn ab, worauf er sie um so fester in die Arme schloß. Mit einer raschen Bewegung zog er ihr die Mütze vom Kopf, und die roten Haare fielen ihr über die Schultern. Seine Hand fuhr durch ihre Locken und zog ihren Kopf weit in den Nacken. Dann beugte er sich über sie und preßte seine Lippen auf ihren Mund.
Eine Geste der Liebe, und am Ende ist alles nur Lüge. Im Innern der Person am Seeufer schrie es. Geblieben war ihr nur der Dämon. Ihr unbändiger Haß übertrug sich auf die unbeschwerte Frau im Segelboot. Du Hure, du entkommst mir nicht.
Ein kalter Schauer glitt über den Körper der Gestalt. Für einen kurzen Moment noch beobachtete sie das Treiben auf dem Boot, dann setzte die Person das Fernglas entschlossen
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