Dornroeschenmord
die Kehle zu.
Gerade wollte sie sich bücken, um die Knochen aufzusammeln, als ihr plötzlich etwas Weiches, Warmes um die Beine strich. Sie fuhr herum, bereit, sich zu verteidigen. Doch vor ihr stand nur Grassers grauer Pudel, der vor Freude über den neuen Spielkameraden mit dem Schwanz wedelte. In seiner Schnauze hielt er einen der Knochen, den er nun triumphierend vor Mandys Füße legte.
Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Was, wenn er auch noch bellen würde? Mit einer verschwörerischen Geste legte sie die Finger auf die Lippen. Das Tier blieb still, als könnte es sie tatsächlich verstehen. Unter seinem aufmerksamen Blick sammelte sie zitternd die sterblichen Überreste von Grassers Mutter ein und stellte den Miniatursarg an seinen Platz zurück.
»Mephisto! Mephisto!« dröhnte von oben Grassers Stimme. Der Hund reagierte nicht, sondern blieb erwartungsvoll vor Mandy sitzen. Irgendwie mußte sie ihn dazu bringen, den Raum zu verlassen, bevor Grasser sie entdeckte. Leise ging sie ein paar Treppenstufen hoch und hörte, wie sich die schweren Schritte des Arztes dem Sprechzimmer näherten. Dazwischen gab er schrille Pfiffe von sich.
Verzweifelt blickte Mandy um sich, in der Hoffnung, etwas zu finden, womit sie den Hund weglocken könnte. Schließlich riß sie sich die Mütze vom Kopf, löste die große Perlmuttspange aus den Haaren und schleuderte sie mit aller Kraft die Treppe hinauf. Mist, das gute Stück Chanel, schoß es ihr durch den Kopf, und sie wunderte sich, wie sie in einer solchen Situation an etwas so Banales denken konnte.
»Such, Mephisto«, flüsterte sie, und wie ein Blitz schoß der Hund dem vermeintlichen Spielzeug hinterher. Erleichtert atmete sie auf. Vorsichtig schlich sie die Stufen hinauf und hörte, wie Grasser in liebevollem Singsang mit seinem kleinen Liebling sprach.
»Na, du Böser? Was hast du denn da Schönes? Zeig doch mal her.«
O Gott, wenn er die Spange entdeckte, war sie verloren! Sicher würde Grasser jeden umbringen, der hinter sein Geheimnis kam. Noch nie in ihrem Leben hatte Mandy solche Angst verspürt. Sie dachte an all ihre Pläne und Hoffnungen, an Frederick und an das, was sie sich mit ihm gewünscht hatte. In Gedanken verfluchte sie ihre Abenteuerlust, die sie davon abgehalten hatte, einer ruhigen Schreibtischtätigkeit nachzugehen.
Ihre dunkle Ahnung schien sich zu erfüllen. Deutlich hörte sie, wie Grasser, aufgeregt vor sich hin murmelnd, durch die Zimmer ging. Mit pochendem Herzen spähte sie hinter dem Rahmen der Geheimtür hervor. Grassers Schritte hallten in ihren Ohren wie Donnerschläge.
Plötzlich erklang ein durchdringender Ton. Die Schritte verstummten, und der Ton wiederholte sich. Das Telefon! Der Mann schien einen Moment zu zögern. Doch dann besann er sich offensichtlich, machte kehrt und ging in sein Sprechzimmer.
Sekunden später hörte Mandy, wie er mit jemandem sprach. Das war die Gelegenheit, endlich abzuhauen. Atemlos huschte sie in den Flur, der mittlerweile hell erleuchtet war. Grasser telefonierte noch, und aus einem der Räume hörte sie ein gleichmäßiges Schlabbern. Gott sei Dank, Mephisto war beschäftigt. Mit einem Satz war sie an der Haustür und hetzte hinaus. Drinnen hob der Hund lauschend den Kopf und begann lauthals zu bellen.
16
Was hilft’s nach dem Applaus der Welt
mit vorgebundner Maske schielen?
Da der allein nie aus der Rolle fällt,
der’s immer wagt, sich selbst zu spielen.
PAUL HEYSE
Wenn sie später jemand gefragt hätte, was sie nach diesem Erlebnis empfunden hatte, so wäre Mandy nur ein Begriff eingefallen: Leere. Nachdem sie Grasser entkommen war, legte sich die Angst, ihr Puls fiel, und ihr Atem ging wieder gleichmäßig. Einzig die Leere war überwältigend – als habe man ihr mit einer riesigen Ampulle alle Energie entzogen.
Der Fall und seine Hintergründe überschritten mittlerweile ihre Belastungsgrenze. Wie entspannend wären dagegen die Recherchen für einen netten kleinen Ehebruch gewesen – gut bezahlt, schnell geklärt und wenig spektakulär.
Allmählich stellte sie sich die Frage, ob es für ihr Seelenheil nicht das Beste wäre, den Auftrag einfach abzugeben. Das einzige, wonach sie sich im Moment sehnte, war vollkommene Ruhe. Sogar der Gedanke an Frederick erschien ihr anstrengend. Zu Tode erschöpft sank sie in ihr Bett.
Die Stimme kam von weit her. »Malina, Malina«, raunte sie und klang merkwürdig blechern. Unwillig tauchte Mandy aus dem Schlaf auf. Die Stimme
Weitere Kostenlose Bücher