Dornroeschenmord
wo Grasser sie geschlagen hatte, war geschwollen und bläulich unterlaufen, und unter ihren Augen lagen tiefe dunkle Ringe. Obwohl der Wunsch, sich gründlich zu waschen, noch größer war als Hunger und Durst, schaffte sie es nicht, sich auch nur einen einzigen Meter vorwärts zu bewegen. Weinend und erschöpft brach sie vor der Badezimmertür zusammen.
Als sie erwachte, lag sie, nur mit Unterwäsche bekleidet, in ihrem Bett. Ein Waschlappen kühlte ihre geschwollene Wange. Sie öffnete die Augen und erkannte Edward, der ihre Hand hielt und sich besorgt über sie beugte.
»Bist du schon lange da?« Ihre Stimme war kaum noch ein Flüstern.
»Seit sechs Stunden. Ich habe dich im Flur gefunden. Du lagst am Boden vor der Badezimmertür. Ich habe seit drei Tagen ununterbrochen versucht, dich zu erreichen. Wo in aller Welt hast du gesteckt?«
In kurzen Worten schilderte sie Edward, was in den vergangenen Tagen passiert war. Hinterher brach sie in Tränen aus. Edward preßte sie fest gegen seine Schulter und streichelte ihr beruhigend über den Kopf.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bin jetzt da, und Dorothee kommt in ungefähr einer Stunde, ich habe sie schon angerufen. Sie wird dich erst einmal gründlich untersuchen. Außerdem halte ich es für eine gute Idee, wenn du mit ihr zusammen in unser Landhaus nach Berchtesgaden fährst, bis sich hier alles beruhigt hat. Ich werde gleich die Polizei anrufen, und die soll sich dann um diesen Bastard kümmern. Du hast nichts mehr zu befürchten, dich wird er auf keinen Fall umbringen.«
Durch Edwards tröstende Worte kam Mandy allmählich zur Ruhe. Mit seiner Hilfe verließ sie ihr Bett und tat das, was sie sich seit Tagen am meisten gewünscht hatte: Sie nahm ein langes und heißes Bad.
Als Mandy mit einem Handtuch um den Kopf gewickelt und in ihren Bademantel gehüllt ins Wohnzimmer kam, war Dorothee schon da. Fürsorglich nahm ihre Freundin sie in den Arm:
»Mein Gott, Mandy, du ahnst gar nicht, was für Sorgen wir uns gemacht haben. Ich habe mindestens hundertmal bei dir angerufen und mindestens zehnmal vor deiner Tür gestanden. Wer hätte denn so was ahnen können?«
»Christoph«, sagte Mandy, »Christoph war wohl der einzige, der die Ausmaße von Grassers Gefährlichkeit richtig eingeschätzt hat. Er hat mich auf meiner Geburtstagsfeier noch einmal gewarnt, aber aus irgendeinem Grund habe ich ihn nicht ernst genommen, wahrscheinlich, weil Grasser mir trotz allem leid getan hat. O Gott, wenn ich mir vorstelle, er hätte mich genauso umgebracht wie die anderen drei Frauen.« Der Gedanke an die Gefahr, der sie knapp entronnen war, brachte ihre Stimme zum Zittern, und im selben Moment brach das Gefühl der Panik erneut über sie herein. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie begriffen, wie sterblich sie war.
Dorothee hatte gegen Edwards Idee, mit Mandy in die Alpen zu fahren, nichts einzuwenden. Je schneller, desto besser, fand sie, doch vorher wollte sie Mandy auf jeden Fall untersuchen. Außer den Schürfwunden an ihren Gelenken konnte sie allerdings nichts Besorgniserregendes finden. Die Nachwirkung des Haloperidols lasse sich nicht beeinflussen, man müsse einfach abwarten, meinte sie. Das Zittern und auch die gedämpfte Reaktionsfähigkeit würden innerhalb von zwei Tagen vergangen sein.
21
Man muß sterben weil man sie kennt.
Sterben an der unsäglichen Blüthe des Lebens
sterben an ihren leichten Händen.
Sterben an Frauen.
RAINER MARIA RILKE
Vielleicht lag es an ihrem grundsätzlich heiteren Naturell, daß Mandy trotz allen Grauens der letzten Zeit auch jetzt noch in der Lage war, sich auf die bevorstehenden Tage in den Bergen zu freuen. Insgeheim fragte sie sich, ob sie tatsächlich ein so fröhlicher Mensch war, wie alle glaubten, oder ob es nicht einfach ihr Überlebenswille war, der sie zwang, das Erlebte zu verdrängen. Denn schon der winzigste Augenblick, den sie sich gestattete, an ihn zu denken, verursachte Übelkeit und Panikattacken.
Sie sah auf die Uhr und schätzte, daß sie innerhalb der nächsten Stunde im »Bernsteinhof« eintreffen würden. Edward wollte zwei Tage später nachkommen. Das Anwesen lag außerhalb von Berchtesgaden, und obwohl Mandy mit Edward nur ein- oder zweimal dort gewesen war, erinnerte sie sich daran, wie sicher und zuverlässig die dicken, goldgelben Mauern der alten Villa auf sie gewirkt hatten.
Mit einer von Edward gezeichneten Karte saß Mandy auf dem Beifahrersitz und dirigierte
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