Dornroeschenmord
Dorothee durch die Berge, wo inzwischen die Dämmerung hereingebrochen war. Ein paar Kilometer zuvor waren sie von der Hauptstraße abgebogen und hatten damit jegliche Zivilisation hinter sich gelassen. Nur der Vollmond schien fahl auf den unbefestigten Kiesweg, und das Surren des Motors war das einzige Geräusch, das die schwarze Stille durchdrang.
Die Steine knirschten unter den Rädern, die sich tapfer Stück für Stück den steilen Weg hinaufquälten. Inzwischen hegte Mandy echte Bedenken, was ihren Orientierungssinn anging, aber um Dorothee nicht zu beunruhigen, hielt sie lieber den Mund. Der Anblick der Tannen, die sich in düsterer und beängstigender Dichte am Wegrand drängten, trug kaum dazu bei, die aufkommenden Zweifel zu besänftigen. Doch als sogar die Silhouetten der hochgewachsenen Bäume verschwunden waren und so der Blick auf den Abgrund frei war, fragte Mandy mit etwas gepreßter Stimme: »Meinst du, wir sind hier richtig?«
»Schau mal, da«, sagte Dorothee mit dünner Stimme und deutete auf einen Haufen Steine, aus dem ein Stück Holz gen Himmel ragte, »das Gipfelkreuz.«
»Wenn hier das Gipfelkreuz ist, dann muß es ja demnächst wieder bergab gehen.« Mandy starrte auf ein Schild, auf dem »Vorsicht, Steinschlag« stand, und versuchte ihrem Tonfall einen beruhigenden Klang beizumischen.
»Stimmt«, antwortete Dorothee, und ihre Hände umklammerten das Lenkrad noch ein wenig fester, während Mandy angestrengt auf Edwards Karte starrte.
»Laut Beschreibung müßten wir bald dasein …
Bernsteinhof, Bernsteinhof«, murmelte sie vor sich hin, als gelte es, das Haus durch das Aufsagen eines Mantras herbeizulocken.
Schweigend fuhren sie weiter durch die Dunkelheit, bis Mandy nach einer scharfen Kurve plötzlich die verwitterten Granitblöcke entdeckte, die die Auffahrt der Villa markierten.
»Halt! Da, da!« schrie sie unvermittelt. Dorothee gab einen Schreckensschrei von sich und trat gleichzeitig so heftig auf die Bremse, daß es die beiden Frauen in ihren Gurten nach vorn schleuderte.
»Mensch, schrei doch nicht so rum«, fauchte Dorothee und funkelte Mandy böse an.
»Tut mir leid, aber wir hätten sonst die Einfahrt verpaßt.«
Dorothee lenkte den Wagen durch das Tor. Der dicht mit Moos überwucherte Weg schlängelte sich ein paar hundert Meter durch ein morastiges Waldstück, bis er sich unerwartet lichtete und den Blick auf die alte Villa freigab.
Mandy, die das Haus von einem warmen Sommertag in Erinnerung hatte, fröstelte kurz bei seinem Anblick, denn in der spätherbstlichen Atmosphäre hatte es seinen leuchtenden Charme verloren. Verlassen stand es da, bewacht von einer erfrorenen Wiese und einem toten Swimmingpool.
»Irgendwie unheimlich«, sagte Dorothee. Mandy gab sich einen Ruck und stieg aus. Draußen war es schon so eisig, daß sie ihren Atem in kleinen Wölkchen vor sich aufsteigen sah.
»Schnell, laß uns reingehen«, sagte sie in bewußt forschem Ton und griff nach ihrer Reisetasche. Dorothee hielt ein paar Schritte Abstand, als wollte sie erst einmal abwarten, ob sich hinter der schweren Holztür nicht doch noch etwas Grauenvolles verbarg.
Doch als Mandy aufschloß und das Licht anknipste, war sie von der heimeligen Atmosphäre der Eingangshalle angenehm überrascht. Das Haus trug seinen Namen nicht umsonst, denn das Licht strahlte golden von den rauhverputzten Wänden, und der honigfarbene Parkettboden paßte ideal zu den hell gebeizten Antikmöbeln.
»Wow«, machte Dorothee, die statt des italienischen Ambientes ausgestopfte Gemsenköpfe und bayerische Bauernstuben erwartet hatte. »Dein Edward ist wirklich eine gute Partie. Allein dieses Haus ist es schon wert, ihm alle seine früheren Sünden zu verzeihen.«
»Hm«, antwortete Mandy und schloß sorgfältig die Tür hinter sich ab. Unerklärlicherweise hatte sie vergessen, wie schön es hier war. »Gehen wir gleich nach oben, da sind die Gästezimmer. Such dir das aus, was dir am besten gefällt. Und dann laß uns erst mal einheizen. Es ist ja eiskalt hier.«
Fünf Minuten später war klar, daß Dorothee ins Turmzimmer ziehen würde. Mandy konnte ihr die Wahl nicht verübeln, denn es war der romantischste Raum im ganzen Haus. Sie dachte daran, wie anheimelnd sie es jedes Mal empfunden hatte, wenn der Regen auf das Kupferdach geprasselt und ihr wohlige Schauer über den Rücken gejagt hatte.
Sie selbst bezog das Rosenzimmer im ersten Stock. Mit seinem Himmelbett und dem üppigen Rosendekor – alles,
Weitere Kostenlose Bücher