Dornroeschenmord
Querschnittslähmung? Andere wären ihr Leben lang nicht mehr aus dem Rollstuhl gekommen – weil sie nicht über meine Kraft, meine Stärke und meinen Überlebenswillen verfügen. Und wollen Sie wissen, woher ich sie habe? Meine Geschichte hat mich dazu prädestiniert. Wer diese Folter überlebt hat, überlebt auch später alles andere.«
Ob es wohl Momente in Grassers Leben gab, in denen er sich der Wahrheit stellte? Mandy ahnte, daß er sie stellvertretend für all diejenigen, die sein Leben zerstört hatten, zum Opfer machte. Auf irgendeine Art und Weise mußten auch die drei anderen Frauen etwas in ihm zerstört haben.
Aufmerksam beobachtete sie den Mann, dessen Blick ruhelos durch den Raum glitt und sich dabei in einer Leere verlief, von der sie nicht wußte, wohin sie ihn führen würde. Plötzlich starrte er auf den blauen Samtvorhang, hinter dem sich Franca Grassers Totenschrein verbarg.
»Sehen Sie hier!« rief er und riß das Stück Stoff auseinander. »Das ist alles, was diese Mörder von ihr übrig gelassen haben, nachdem sie sie vergewaltigt hatten. Einer von ihnen soll mein Vater gewesen sein!« Er lachte zynisch. »Ich habe als einziger das Ganze überlebt, und dann kommen Sie daher und zerstören alles, was ich mir mühevoll aufgebaut habe. Durch Ihren Lügenbericht haben Sie verhindert, daß dieser Film über mich gesendet wird, und mir damit auch meinen Triumph, meinen Sieg über das Schicksal genommen. Endlich hätte jeder gesehen, wer ich wirklich bin. Aber seien Sie gewiß: Ich lasse Sie nicht ungestraft davonkommen.«
Seine Augen glommen vor Rachlust. »Und ich werde es Ihnen nicht leicht machen. Warum sollte Ihre Folter schnell vorbei sein, wenn meine schon Jahrzehnte dauert?« In dunklen Wellen drangen seine Worte an Mandys Ohr und schwappten nur langsam an ihr Hirn. Die ganze Situation erschien ihr plötzlich unwirklich. Doch der brennende Schmerz an den Knöcheln und das Zucken ihres Körpers riefen ihr das Grauen der letzten Stunden wieder ins Bewußtsein.
Als wären ihm mit einen Mal die Worte ausgegangen, schwieg Grasser, und ohne eine weitere Erklärung verließ er abrupt den Raum. Minuten später kam er zurück. Er trug eine Plastikschüssel, aus der heißer Dampf emporstieg. Ein angenehmer Duft strömte durch den Raum. Grasser begann, sie bedächtig auszuziehen.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie so vertraulich berühre«, sagte er, und ihm war anzumerken, daß er es genoß, sie zu demütigen, »aber nach drei Tagen in denselben verschmutzten Kleidern riechen Sie wirklich nicht mehr aprilfrisch.«
Kopfschüttelnd streifte er ihr den Slip über die Beine. In diesem Moment war Mandy beinahe dankbar für die gleichgültig machende Wirkung des Haloperidols. Obwohl so erniedrigend, war ihr die Situation nicht peinlich. Undeutlich nahm sie wahr, wie Grasser einen Schwamm über ihren Körper gleiten ließ. Seine Berührungen waren beinahe zärtlich.
Auch wenn Mandy wußte, daß die anderen Opfer nicht vergewaltigt worden waren, spürte sie dennoch eine große Erleichterung, als er nach ein paar Minuten von ihr abließ und ihr frische Kleidung überzog. Es waren ihre eigenen Sachen, die er sich in der Zwischenzeit aus ihrer Wohnung geholt haben mußte. Abschließend hielt er ihr noch einmal das Wasserglas an die Lippen, das sie in einem Zug leer trank.
Bevor er das Zimmer endgültig verließ, vergaß er nicht, ihr wieder die Stricke anzulegen, nachdem er die offenen Stellen an den Gelenken fürsorglich mit einer Wundsalbe behandelt hatte. Sie hörte noch seinen schlurfenden Schritt auf der Treppe, dann war alles wieder still.
Drei Tage verbrachte sie also schon in ihrem Gefängnis. Höchstwahrscheinlich suchte man nach ihr. Aber wer würde sie hier vermuten, und wie sollte sie überhaupt jemals in diesem Mausoleum gefunden werden?
Durch den Schleier ihrer verlangsamten Wahrnehmung fiel ihr plötzlich auf, daß die computergesicherte Geheimtür immer noch offenstehen mußte, denn sie hatte das ächzende Geräusch, das durch das Öffnen und Schließen der Tür verursacht wurde, bislang kein einziges Mal gehört. In diesem Punkt war Grasser offenbar unvorsichtig gewesen. Der Weg nach draußen war frei.
Ihr Handicap lag in der Hilflosigkeit ihres Körpers. Nur ihr Gehirn schien, wenn auch verlangsamt, zu funktionieren. Zumindest hatte das klare Wasser ihren Körper erfrischt und ihren Kreislauf ein wenig in Bewegung gebracht. Außerdem hatte das Zittern nachgelassen.
Wenn sie hier
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