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Dornroeschenmord

Dornroeschenmord

Titel: Dornroeschenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kalman
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herauswollte, dann mußte sie all ihre Kräfte zusammennehmen. Sie versuchte sich zu bewegen und stellte überrascht fest, daß der Ringfinger ihrer rechten Hand sich dabei kaum merkbar krümmte. Dann konzentrierte sie sich darauf, ihre verbliebene Energie in diesen einen Finger fließen zu lassen. Durch die Anstrengung stand ihr bald der Schweiß auf der Stirn, aber sie gab nicht auf, und schließlich gelang es ihr, den ganzen Finger zu bewegen. Und jetzt die ganze Hand, dachte sie und biß die Zähne zusammen.
    Minuten verstrichen, bis es ihr gelang, ihre Hand in der Schlinge hin und her zu drehen. Sie konnte sich bewegen! Verbissen machte sie weiter, und allmählich lockerte sich die Fessel um das blutende Gelenk. Mandy keuchte vor Anstrengung, doch der Gedanke, sich zu retten, ließ Kräfte in ihr wach werden, von denen sie bisher nichts geahnt hatte. Und dann war es geschafft: Ihre Hand löste sich aus den Fesseln, und sie war frei.
    Eine weitere Stunde verging, bis sie die linke Hand und ihre Füße aus den Stricken gezogen hatte. Zwischendurch hatte sie immer wieder nach Grassers Schritten gelauscht, aber ihr Entführer ließ nichts von sich hören. Sie hatte sich wohlweislich soviel Zeit gelassen, um ihre Reserven in der richtigen Dosis einzusetzen.
    Wie sie es schließlich geschafft hatte, die Treppe zu erklimmen, konnte sie später nicht mehr sagen, sie wußte nur noch, daß ihre Kleidung hinterher völlig naßgeschwitzt war und ihr Zittern nicht nur auf das Haloperidol zurückzuführen war. Als sie das Behandlungszimmer erreichte, galt ihre einzige Sorge ihrem unkontrollierten lauten Keuchen. Kein Laut drang aus den Räumen, aber falls Grasser in der Nähe war, würde er sie unweigerlich hören.
    Während sie schwerfällig durch den Flur schlich, mußte sie daran denken, wie leichtfüßig sie beim ersten Mal diesem Ort entkommen war. Mühevoll zwang sie einen Fuß vor den anderen und hatte das Gefühl, nur zentimeterweise voranzukommen. Unbeirrt behielt sie die Haustür im Auge. Eins, zwei, drei …, zählte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
    Auf einmal hörte sie ein Geräusch. Durch einen Türspalt am Ende des Flurs konnte sie einen Blick ins Sprechzimmer erhaschen, wo Grasser gerade eine neue Ampulle füllte. Dann griff er nach einem Löffel, zählte einzelne Tropfen darauf ab und schob ihn sich in den Mund. Deshalb also war Grasser im Besitz eines solchen Medikaments: Er mußte das Neuroleptikum selbst einnehmen, um die Auswirkungen seiner Krankheit so gering wie möglich zu halten.
    Vorsichtig näherte Mandy sich der Haustür. Die Klinke war nur noch ein winziges Stück von ihr entfernt, und sie hätte beinahe vor Erleichterung geweint. Gerade als ihre Finger den kühlen Metallknauf berührten, legte sich eine Hand schwer auf ihre Schulter.
    »Na, planen wir einen kleinen Ausflug? Gefällt’s Ihnen riet in Ihrer Suite? Das tut mir aber leid. Ich kann Sie leider riet gehen lassen. Das verstehen’S doch hoffentlich.«
    Mit einem sardonischen Lächeln sah Grasser sie an. Als sie die Nadel zwischen seinen Fingern aufblitzen sah, zerbrach all ihre Hoffnung und wich einer resignierten Müdigkeit. Für den Arzt war es ein Kinderspiel, den Ärmel ihres Pullis nach oben zu schieben.
    Doch gerade als die Nadel ihre Haut berührte, stieg in ihr ein unglaublicher Haß auf diesen Menschen hoch, der sie für Geschehnisse büßen ließ, mit denen sie nicht das Geringste zu tun hatte. Mit aller Kraft entwand sie sich seinem Griff und stieß ihm mit einem Aufschrei Mittel- und Zeigefinger der freien Hand geradewegs in die Augen. Der jähe Schmerz ließ den Mann taumeln, die Ampulle fiel klirrend zu Boden. Blind stolperte er durch den Flur und stürzte über seinen Hund, der aufgeregt um ihn herumtrippelte.
    Mandy griff nach der Spritze und stieß sie in einen von Grassers fleischigen Oberschenkeln. Als sie das Haus verließ, gab der Mann keinen Laut mehr von sich, nur sein Hund leckte ihm traurig winselnd die Hand.
     
    Zu Hause blickte Mandy in den Spiegel, und ihr wurde schlagartig klar, warum die Menschen sie unterwegs so entsetzt angestarrt hatten. Nachdem sie Grasser entkommen war, hatte sie sich zur nächsten Bushaltestelle geschleppt. Sämtliche Gespräche waren plötzlich verstummt, als sie in das Fahrzeug eingestiegen war, und die Leute hatten sie mit solchem Widerwillen gemustert, als wäre eine Aussätzige unter ihnen.
    Sie sah aus wie ein Junkie nach zehntägigem Entzug. Die linke Seite ihres Gesichts,

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